1961-phylogenanpassung
Konrad Lorenz 1961
Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Verhaltens
Zeitschrift für Tierpsychologie 18(2): 139-187.
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Konrad Lorenz Haus Altenberg – http://klha.at]
Seitenumbrüche und -zahlen wie im Original.
K. Lorenz 1961 Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Verhaltens
Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des
Verhaltens
I. Einleitung und Aufgabestellung
Merkmale werden nicht vererbt, sondern Variationsbreiten der Merkmals-Ausbildung. Diese verläuft, innerhalb der erblich abgesteckten Variationsbreite, in engster und komplexester Wechselwirkung zwischen Erbfaktoren und Außenfaktoren, in einer Weise, die von der Phaenogenetik in einzelnen Fällen analysiert worden ist. Das ausgebildete Merkmal darf man also nicht als „angeboren" oder „ererbt" bezeichnen, genau genommen nicht einmal dann, wenn es, wie Erbkoordinationen und viele andere Elemente des Verhaltens, nur eine minimale, praktisch zu vernachlässigende Modifikabilitätsbreite besitzt. Aber allgemein üblich ist das unter Genetikern trotzdem, so daß es wohl nicht tadelnswert erscheint, wenn bestimmte arteigene Bewegungskoordinationen auch von Biologen, die durchaus nicht nur im Nebenberuf Genetiker sind, wie E. MAYR, W. H. THORPE und O. KOEHLER ohne jeden Vorbehalt als angeboren bezeichnet werden.
Die Formulierung vieler englisch publizierender Ethologen lautet, man dürfe das
Eigenschaftswort angeboren nur auf Merkmals-Unterschiede, nicht aber auf die Merkmale selbst anwenden. Auch wer die logisch-begriffliche Fassung dieser Formulierung nicht ganz nachzuvollziehen vermag, muß zugestehen, daß es tatsächlich der klarste und vom Genetiker schlechthin geforderte Beweis für die Erbgebundenheit einer Verhaltensweise ist, wenn sie bei gleich aufgezogenen Individuen verschiedener Abstammung kennzeichnende, eben dieser Abstammung entsprechende Verschiedenheiten zeigt, wie z. B. die Verhaltensweisen des Nistmaterial-Eintragens bei W. DILGERS Agapornidenarten und deren Kreuzungen, oder die Balzbewegungen bei Schwimmenten-Mischlingen. W. VON DE WALL erhielt von der Kreuzung
Anas georgica spinicauda X
A. bahamensis bahamensis eine F2-Generation, allerdings nur zwei Erpel, die sowohl voneinander als auch von allen anderen bekannten Schwimmentenarten verschiedene Neukombinationen bekannter Bewegungselemente zeigten.
Außer genetisch-nomenklatorischen Bedenken haben jene Forscher auch grundsätzliche,
methodologische und begriffliche Einwände dagegen, Verhaltensweisen, und seien es auch noch so kleine Elemente, als angeboren zu bezeichnen. Meiner Meinung beraubt uns diese Einschränkung eines Begriffs, dem ganz sicher eine wirkliche natürliche Einheit entspricht. Auf dem letzten Ethologenkongreß in Cambridge konnte ich mich einer etwas boshaften Erheiterung nicht erwehren, als immer und immer wieder der gewiß etwas unhandliche Ausdruck „was wir früher als angeboren bezeichneten"
("what we formerly called innate") gebraucht wurde. Dieses offensichtliche Bedürfnis nach einem Terminus spricht eine beredte Sprache für die Existenz eines Begriffes, der Wirkliches zum Inhalt hat.
Aufgabe vorliegender Abhandlung ist es, diesen Begriff zu klären und die Existenz des
ihm entsprechenden Wirklichen nachzuweisen. Dieses Unterfangen bringt eine Kritik an mehreren, heute unter Verhaltensforschern weit verbreiteten Einstellungen zum Begriff des Angeborenen mit sich, ebenso aber auch eine Diskussion des Experimentes der Aufzucht unter Entzug bestimmter Lernmöglichkeiten.
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II. Theoretische Einstellungen zum Begriff des „Angeborenen"
Drei bestimmte Meinungen über den Begriff dessen, „was wir früher als angeboren bezeichneten", verdienen hier diskutiert zu werden. Die erste ist die der amerikanischen, behavioristisch orientierten Psychologen, von der ich zeigen zu können glaube, daß sie sowohl epistemologisch als biologisch falsch ist. Die zweite ist die mancher englisch sprechender Ethologen, von denen ich behaupte, daß sie einen heuristisch unentbehrlichen Begriff aus den Händen verloren haben, und zwar teils aus Ober-Vorsicht, teils aber sicher auch aus dem Wunsche, mit gewissen amerikanischen Schulmeinungen einen Kompromiß zu bilden, der sehr zum Schaden der Erkenntnis ausschlägt. Die dritte Meinung schließlich ist die der „naiven" älteren Ethologen, wie HEINROTH, WHITMAN und anderer, einschließlich meiner selbst, an der ich, abgesehen von einigen „Atomismen" und übertriebenen Vereinfachungen, aus zu erörternden Gründen durchaus festhalte.
Die Schule des Behaviorismus behauptet einhellig, die „Dichotomie" von „Angeborenem"
und „Erlerntem" entbehre jedes analytischen Wertes
("is not analytically valid" [HEBB 1953]). Diese Behauptung wird vor allem durch zwei Argumente gestützt. Das erste lautet, die erwähnte „Dichotomie" sei nichts als eine
petitio principii, daß bisher die einzig mögliche Definition für das Angeborene in der Aussage bestehe, daß es nicht erlernt sei, und
vice versa. HEBB schreibt: „Die Identität von Faktoren, die nur durch Ausschluß definiert werden können, muß stark bezweifelt werden"
("The identity of factors only identified by exclusion must strongly be doubted") und „Ich möchte stark nahelegen, daß es nicht zwei Arten von Faktoren gibt, die tierisches Verhalten bestimmen, und daß der Terminus „Instinkt" völlig irreführend ist, weil er die Existenz eines nervlichen Vorganges oder Mechanismus bedeutet, der unabhängig von Umgebungsfaktoren ist und verschieden von jenen Nervenprozessen, in die Lernen eingeht"
(„I strongly urge there are not two kinds of factors determining animal behaviour and that the term 'instinct' is completely misleading, as it implies a nervous process or mechanism which is independent of environmental factors and different from those nervous processes into which learning enters.")
Das zweite Argument, das besonders von LEHRMAN betont wurde, besagt, daß selbst,
wenn man das Vorhandensein lern-unabhängiger Anteile des Verhaltens nicht von vornherein leugnet, der Begriff des Angeborenen dennoch heuristisch wertlos sei, weil es praktisch nie möglich sein werde, die Beteiligung des Lernens an frühen epigenetischen Prozessen völlig auszuschließen, die sich, dem Beobachter unzugänglich, im Ei oder
in utero abspielen.
Scharf von der behavioristischen Einstellung zu trennen, wenn auch in manchen
Äußerlichkeiten ihr ähnlich, ist die TINBERGENS und vieler anderer moderner englischsprechender Ethologen. Obwohl diese Autoren, zum Teil aus den schon erwähnten genetisch-terminologischen Erwägungen, den Ausdruck „angeboren"
("innate") nicht mehr auf Verhaltensweisen anwenden, sind sie sich doch voll bewußt, daß es zwei völlig voneinander unabhängige Mechanismen gibt, die eine Anpassung des Verhaltens an die Erfordernisse der Arterhaltung bewirken, nämlich erstens die Vorgänge der Phylogenese, in der die Evolution arterhaltender Verhaltensweisen durch die gleichen Faktoren bewirkt wird wie die morphologischer Merkmale, und zweitens die Vorgänge adaptiver Modifikation des Verhaltens, die sich im Leben des Individuums abspielen und unter denen das sogenannte Lernen zweifellos die wichtigste ist.
Obwohl sie sich der grundsätzlichen Zweiheit der Quellen aller Anpassung bewußt sind,
halten die hier in Rede stehenden Forscher die Annahme
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für die günstigste Arbeitshypothese, daß in a l l e n Verhaltensweisen, selbst in deren kleinsten denkbaren Elementen, Anpassungen aus b e i d e n Quellen enthalten seien. Nach ihrer Meinung sind jene Verhaltensweisen, „die man früher als angeboren und erlernt bezeichnete", nichts als die extremen Endglieder einer stufenlosen Skala, die alle nur denkbaren Mischungen und Überlagerungen von Anpassungen beiderlei Art enthält. Daß gerade die beiden Extremtypen mit so erstaunlicher Häufigkeit vorkommen, wird voll erkannt und mit der vorläufigen Zusatzhypothese erklärt, daß beide wegen ihres besonders großen Arterhaltungswertes von der Selektion gegenüber den Mischformen bevorzugt würden.
Bei dieser Einstellung scheint jeder Versuch, phylogenetisch und individuell angepaßte
Verhaltens - E l e m e n t e begrifflich oder gar im praktischen Experiment voneinander zu trennen, von vornherein als sinn- und hoffnungslos, und zwar keineswegs nur aus den schon erwähnten genetisch-nomenklatorischen Gründen, sondern aus sorgfältig angestellten methodologischen Erwägungen, die vor allem von dem Bestreben geleitet werden, nur „operationelle"
(operational) Begriffsbildungen zu verwenden, d. h. solche, die auf unmittelbare Prüfbarkeit durch das Experiment zugeschnitten sind.
Tatsächlich kann man im voraussetzungslosen Versuch das Angeborene von dem durch
Umweltfaktoren Bewirkten nur dadurch unterscheiden, daß man, da Erbfaktoren nicht unmittelbar experimentell zu verändern sind, jeweils die Wirkung eines bestimmten Umgebungsfaktors prüft, indem man eine Gruppe von Versuchstieren unter Bedingungen aufwachsen läßt, die sie dieser Wirkung entziehen, eine Gruppe von Kontrolltieren dagegen unter solchen, bei denen jener Faktor wirksam ist. Ein einzelnes Experiment dieser Art kann natürlich nur zu der Aussage berechtigen, daß ein einzelner geprüfter Umgebungsfaktor unwesentlich für die Entwicklung des zu untersuchenden Verhaltenselementes sei. Da es nun weder praktisch noch auch theoretisch möglich ist, von a l l e n denkbaren Umgebungsfaktoren nachzuweisen, daß sie für die Ontogenese eines bestimmten Verhaltenselementes belanglos seien, ist es auch grundsätzlich unmöglich, so wird argumentiert, die volle Erbgebundenheit dieses Elementes nachzuweisen. Der Begriff des Angeborenen, auf Verhaltensbestandteile angewendet, entbehre daher des analytischen Wertes. Erst recht sei es unmöglich, auf Grund eines einzigen oder einiger weniger Experimente mit Erfahrungsentzug zu behaupten, eine Bewegungs- oder Reaktionsweise sei als Ganzes angeboren, womit dem Versuch der Aufzucht unter Erfahrungsentzug, wie wir ihn anstellen, jeder Wert abgesprochen ist. Diese Konsequenz wird noch durch ein Argument gestützt, daß sich aus bestimmten, S. 172 ff. genau zu erörternden Leistungs-Beschränkungen des Experiments der isolierenden Aufzucht ergibt.
Die dritte und zur Zeit am meisten um- und bestrittene Anschauung ist die, daß im
Aktionssystem höherer Tiere größere Einheiten von Verhaltensweisen auftreten, die durch Lernen völlig unbeeinflußbar sind und mit anderen Systemen, vor allem solchen auf der rezeptorischen Seite, zusammenarbeiten, die ihrerseits durch Lernen verändert und angepaßt werden können. Der alte Ausdruck „Instinkt-Dressur-Verschränkung", den ich vor mehr als 30 Jahren vorschlug, entspricht dieser Auffassung. Wenn sie richtig ist, so muß die bei höheren Wirbeltieren ganz zweifellos nachweisbare phylogenetische Entwicklung des Verhaltens in der Richtung zunehmender Veränderlichkeit und individueller Anpassungsfähigkeit ebensosehr auf einer Reduktion der starr angeborenen Verhaltensweisen, wie auf einer Höherentwicklung der Lernfähigkeit beruhen, wie schon WHITMAN (1898) folgerichtig annahm.
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III. Kritik des ersten behavioristischen Argumentes
Es ist einfach nicht wahr, daß „Das, was wir früher als angeboren bezeichneten" und „Das, was wir früher erlernt nannten", eins nur durch Ausschluß des anderen definiert sei. Wie ein zweiter, bei Diskussion des zweiten behavioristischen Argumentes zu kritisierender Irrtum entspringt auch dieser dem geflissentlichen Übersehen der Tatsache, daß keine Angepaßtheit von Struktur oder Verhalten an eine bestimmte Gegebenheit der Umwelt jemals als ein Produkt des Zufalls betrachtet oder gar als selbstverständlich hingenommen werden darf. Anpassung ist der Vorgang, der den Organismus in Auseinandersetzung mit seiner Umgebung so formt, daß er sich und seine Art erhält. Angepaßtheit ist stets der unwiderlegliche Beweis, daß sich ein solcher Vorgang abgespielt hat. Die A n - F o r m u n g des Organismus an die wenig oder nicht durch ihn veränderlichen Gegebenheiten der Umwelt kommt einer A b b i l d u n g dieser Gegebenheiten so nahe, daß man berechtigterweise von I n f o r m a t i o n über sie sprechen kann, die in irgendeiner Weise in das organische System hineingelangt sein muß. (Das Wort Information wird hier durchaus im Sinne der Umgangssprache gebraucht, nicht in dem weit engeren der Informationstheorie.) E s g i b t n u r z w e i W e g e , a u f d e n e n d i e s g e s c h e h e n s e i n k a n n .
1. Der erste dieser Wege ist die Wechselwirkung zwischen der Art und ihrer Umwelt. Sie
verursacht auf dem Wege der Erbänderung und der natür lichen Zuchtwahl Anpassung des Organismus an die Umwelt. Alle Strukturen und Funktionen des Chromosomenapparates können in ihrer Gesamtheit als ein Mechanismus aufgefaßt werden, der nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum verfährt und Informationen über die für den Organismus wesentlichen Umweltdaten sammelt und aufbewahrt. Immer wird nur ein durch die Muta tionsrate bestimmter Teil der Nachkommenschaft in neuen „Experimenten" aufs Spiel gesetzt, ohne den Bestand der Art und damit den Hort der bereits zusammengetragenen Information zu gefährden. Vielleicht liegt eine sehr wesentliche Funktion der geschlechtlichen Fortpflanzung im raschen Verbreiten der „Nachricht", daß eine bestimmte neue Erbänderung im Daseinskampf besonders erfolgreich sei. DONALD CAMPBELL (1958) hat darauf hingewiesen, dass dieses Vorgehen mit dem der reinen, d. h. nicht durch deduktive Vorgänge be einflußten und geleiteten I n d u k t i o n identisch sei. Die gewonnene Information wird in den Genen gespeichert, die deshalb treffend einer „chif frierten Information" verglichen wurden, die von Generation zu Generation weitergegeben und in jeder Ontogenese aufs Neue dechiffriert wird.
Die Organisation, die all dies leistet, ist in der Evolution der Lebewesen sehr früh
entstanden. Daß sämtliche höheren Tiere und Pflanzen von jenen Organismen abstammen, die Chromosomenapparat, Meiosis und Zygotenbildung „erfunden" haben, steht fest, und je mehr die Forschung über die Fortpflanzung niederer und niedrigster Lebensformen zutage fördert, desto mehr drängt sich die Frage auf, ob nicht die Entstehung der eben diskutierten Leistungen des Gewinns und des Sammelns von Information mit der Entstehung des Lebens gleichzusetzen sei.
2. Der zweite Weg, auf dem Information über die Außenwelt in den Organismus gelangen
kann, ist die Auseinandersetzung des I n d i v i d u u m s mit ihr. Einen Informationsgewinn bedeutet jeder Reizempfang, der den Organismus über seine a u g e n b l i c k l i c h e Situation in der Umwelt orientiert und das
"hic et nunc" seines Verhaltens bestimmt. Zu dieser Art von sofortiger, arterhaltend sinnvoller Bezugnahme auf soeben eintreffende Umweltreize gehören alle unmittelbar r e - a k t i v e n Vorgänge, was immer
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auch durch sie betätigt wird, „unbedingte Reflexe", angeborene Auslösemechanismen, Hemmungen oder Taxien. Die letzteren nehmen unter den Mechanismen der „Augenblicks-Information" insofern eine Sonderstellung ein, als sie neben dem zeitbezogenen Kommando „Jetzt ist die betreffende Verhaltensweise loszulassen" auch räumliche Angaben enthalten, die sehr reich an Informationen sein können. Der Empfang aktueller Situations-Information geht, besonders bei den am höchsten differenzierten Orientierungsmechanismen des Menschen, mit dem subjektiven Phänomen der E i n s i c h t einher. Er kann Lernvorgänge erzeugen und ist wohl sehr oft ihre Voraussetzung, aber grundsätzlich unabhängig von ihnen, denn er funktioniert auch bei den niedrigsten Lebewesen, die nicht lernen. Auch wäre es ein Irrtum, die durch ihn bewirkte Anpassung des Verhaltens an die jeweiligen Augenblicksforderungen der Umwelt als Modifikation zu bezeichnen, da sie ja nur die Funktionen eines Apparates sind, der für diese Anforderungen bereit liegt, nicht aber Modifikationen dieses Apparates selbst.
phylogenetischen
Verhaltensmechanismen darin geschwisterlich verwandt, daß es im neuralen Apparat, der das Verhalten bestimmt, S t r u k t u r e n s c h a f f t b z w . v e r ä n d e r t . Einen derartigen Vorgang, der sich im Leben des Individuums abspielt, bezeichnet man als M o d i f i k a t i o n . Daß eine Modifikation, die durch einen bestimmten Umwelteinfluß hervorgerufen wird, eine Anpassung an gerade diesen Umstand hervorbringt, ist um nichts wahrscheinlicher, als daß eine Mutation adaptiv wirkt. Im Laufe der Stammesgeschichte muß sich ein solcher Zufall natürlich mindestens so oft ereignet haben, als eine arterhaltend zweckmäßige Modifikabilität zum Artmerkmal geworden ist. Wenn also etwa ein Säugetier je nach Strenge des Klimas ein dichteres Fell bekommt oder eine Pflanze, je weniger Licht sie erhält, sich um so höher emporreckt und dadurch ihre Vegetationsspitze doch noch in ausreichende Beleuchtung bringt, so sind diese Anpassungserfolge n i c h t nur durch die aktuellen Einwirkungen der Umgebung verursacht, sondern ebensosehr durch Vorgänge der Phylogenese, die eben diese Form der Modifikabilität ausgelesen und im Genom fixiert haben.
Unvergleichlich viel unwahrscheinlicher als bei diesen verhältnismäßig einfachen
Modifikationen ist das rein zufällige Zustandekommen eines Arterhaltungswertes bei den komplexen Modifikationsvorgängen des Verhaltens, die wir als Lernen bezeichnen. Je differenzierter und je feiner angepaßt ein physiologischer Mechanismus ist, desto leichter wird er durch zufallsbedingte Abänderungen gestört werden, und um so unwahrscheinlicher ist es, daß sie seinen Arterhaltungswert vergrößern. Wenn nun die durch Lernen bewirkte Modifikation höchstdifferenzierter Verhaltensweisen i m m e r eine Verbesserung ihrer arterhaltenden Funktion bedeutet — von seltenen und in ihrem Zustandekommen durchschaubaren Ausnahmen abgesehen — so ist dies ein unumstößlicher Beweis dafür, daß der Lernmechanismus selbst ein Produkt phylogenetischer Anpassungsvorgänge ist.
Welche Definition immer man von dem „was wir früher Lernen nannten" zu geben
gedenkt, zwei Bestimmungsstücke dürfen in ihr nicht fehlen: erstens, daß Lernen eine Modifikation ist, und zweitens, daß es Arterhaltungswert entwickelt. Letzteres als selbstverständlich hinzunehmen, bedeutet die Annahme einer prästabilierten Harmonie; ihn zu ignorieren, wie es viele behavioristische Psychologen tun, ist biologischer Unsinn, der bei den meisten jener Autoren nur deshalb nicht so sehr in die Augen fällt, weil ihre Versuchsanordnungen von den Bedingungen des natürlichen Lebensraumes der
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untersuchten Arten ebensoweit abweichen, wie ihre Fragestellung von der biologischen.
Dem biologisch Denkenden muß es eine Selbstverständlichkeit sein, daß jede Form von
Lernen, wie jede andere ebenso komplizierte und offensichtlich arterhaltende Leistung, die Funktion eines in das organische System eingebauten Mechanismus ist, der unter dem Selektionsdruck eben dieser Leistung phylogenetisch entstanden ist. Daß diese Leistung beim Lernen darin besteht, i n d i v i d u e l l gewonnene Informationen zu speichern und auszuwerten, ändert an diesen Erwägungen nichts, stellt aber die sehr konkrete Frage, wie der Mechanismus es fertigbringt, unter der Vielfalt möglicher An- und Abdressuren die arterhaltend günstigen zu bewirken und die schädlichen zu vermeiden.
Die Klassiker des Behaviorismus gaben auf diese Frage die einfache Antwort, daß alle
Reizsituationen, die mit der Stillung primärer körperlicher Bedürfnisse einhergehen, andressierend, alle hingegen, die körperliche Schädigungen verursachen, abdressierend auf jene Verhaltensweisen wirken, die unmittelbar vorangingen und eben jene Reizsituationen herbeiführten. Dabei wird zwar die Notwendigkeit einer Erklärung für den Arterhaltungswert des Lernens berücksichtigt, aber vorausgesetzt, daß der Organismus „wisse", wann es ihm gut und wann es ihm schlecht gehe. Daran ist insofern etwas Wahres, als es offenbar Mechanismen gibt, die im vegetativen Nervensystem und in seinen nahen Beziehungen zum Stoffwechsel verankert und so konstruiert sind, daß sie an die zentralsten Instanzen des Zentralnervensystems Störungsmeldung erstatten, wenn in irgendeinem der unzähligen Regelsysteme des Organismus eine Abweichung von dem im Interesse der Arterhaltung erwünschten Sollstand eintritt. Bei Menschen ist diese Störungsmeldung mit dem diffusen Erlebnis korreliert, das wir mit dem bezeichnenderweise so ungeheuer allgemein gehaltenen Ausdruck beschreiben: „Mir ist schlecht." Genau wie die Meldung des durch sehr viel einfachere rezeptorische Apparate ausgelösten Schmerzsinnes wirkt diejenige des fast ebenso vielseitigen „Übelkeits-Rezeptors" intensiv abdressierend, ihr Abflauen oder Aufhören dagegen als positives Dressurmittel.
Wie vielseitig der Apparat zur Stillung körperlicher Bedürfnisse arbeitet, zeigte CURT
RICHTER 1954, indem er die Nahrungsstoffe, die Ratten benötigen, in die größtmögliche Zahl ihrer chemischen Bestandteile zerlegte und diese in getrennten Futtergefäßen anbot, z. B. die zu Eiweiß gehörigen Aminosäuren getrennt voneinander. Wie genaue Wägungen ergaben, nahmen die Versuchstiere von jedem Nahrungsbestandteil genau so viel, wie davon verhältnismäßig in normaler Nahrung enthalten ist. Der Nebenniere beraubte Tiere vermehrten alsbald ihre Kochsalzaufnahme und kompensierten so die durch den Eingriff erzeugte Störung des Salzhaushaltes.
Diese Ergebnisse stellen die wichtige und m. W. noch nicht untersuchte Frage, woher dem
Organismus die Information zukommt, welche Stoffe ihm fehlen und woran sie zu „erkennen" seien. Es gibt zumindest einen Fall, in dem ein phylogenetisch entstandener rezeptorischer Apparat, ein echter AAM, für den Mangel eines lebenswichtigen Stoffes bereitliegt: Vögel fressen bei Kalkmangel alles, was weiß, hart und bröckelig ist, ohne Rüdesicht auf chemische Zusammensetzung, und vergiften sich dabei leicht, z. B., wie ich es an einem Steinsperling erlebte, an Calciumkarbid. Daß die von RICHTER entdeckten Leistungen auf ähnlichen, phylogenetisch entstandenen Mechanismen beruhen, ist wohl mit Sicherheit auszuschließen, denn daß die zum lebensnotwendigen Eiweiß gehörigen Bestandteile getrennt angeboten werden, ist
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sicherlich RICHTERS Versuchstieren in der gesamten Stammesgeschichte von
Epimys norvegicus als ersten passiert! Die nächstliegende, m. W. noch nicht geprüfte Hypothese ist, daß die Tiere zunächst von jedem gebotenen Stoff nur wenig fressen und so in Erfahrung bringen, „wie einem darauf wird". Tatsächlich nehmen viele omnivore Tiere beim erstmaligen Angebot unbekannter Nahrung nur sehr wenig auf, und häufig wird ein bestimmtes Futter nur beim erstenmal und dann nie wieder gefressen. Gleiche Erwägungen treffen auf die Kompensation der durch Nebennierenrindenschädigung erzeugten Störung des Kochsalzhaushaltes zu.
Wenn HULL (1943) die hochwichtige und unzweifelhaft richtige Aussage macht, daß jede
Änderung der äußeren und inneren Reizsituation, die ein „Nachlassen der Spannung"
(relief of tension) verursacht, als positives Dressurmittel wirkt, so steckt auch hinter dieser Tatsache die Funktion eines „eingebauten" Mechanismus, der, ähnlich vielseitig wie der oben besprochene, imstande ist, das Lernen in einer sehr großen Zahl höchst verschiedener Umweltsituationen in arterhaltende Bahnen zu lenken. Appetenzen und Aversionen, im Sinne WALLACE CRAIGS entgegengesetzt wirkende Typen tierischen und menschlichen Verhaltens, haben das eine gemeinsam, daß dressurvariables, zielgerichtetes Verhalten nach einer äußeren und inneren Reizsituation strebt, die mit einem Abklingen der Allgemeinerregung einhergeht, und daß eben dieses als positives Dressurmittel auf die vorangegangenen Verhaltensweisen einwirkt. Gegenteilig ist bei diesen beiden Dressurvorgängen nur die Art und Herkunft der Spannung, die beseitigt wird: Im ersten Falle ist sie durch die spontane Reizerzeugung der Instinktbewegung geschaffen, nach deren Auslösung das Appetenzverhalten im engeren Sinne strebt, im zweiten Falle durch den Störungsreiz, dem sich der Organismus durch „Aversion", die wir besser mit M. MEYER-HOLZAPFEL (1940) als „Appetenz nach dem Ruhezustand" bezeichnen, zu entziehen strebt.
Bei allen Dressurvorgängen der eben besprochenen Art steckt die phylogenetisch
erworbene Information, die dem Organismus sagt, welche Erfolge seines Handelns im Interesse der Systemerhaltung möglichst oft wieder herbeigeführt und welche möglichst vermieden werden sollen, in der Organisation rezeptorischer Mechanismen, die ganz bestimmte äußere und innere Reizsituationen selektiv aufnehmen, mit positiven und negativen Vorzeichen versehen und zentralwärts melden. Wie in den eben besprochenen Mechanismen ist diese Information häufig sehr allgemein und „abstrakt" gehalten, wobei der stets notwendige Kompromiß zwischen Selektivität und Breite der Anwendbarkeit zugunsten der letzteren ausfällt. So ist bei vielen Omnivoren oder zumindest euryphagen Tieren der Auslösemechanismus des Fressens so organisiert, daß solche Nahrung bevorzugt wird, die möglichst reich an Fett, Zucker und Kohlehydraten und möglichst arm an Faserstoffen ist. Unter natürlichen Bedingungen hochgradig arterhaltend zweckmäßig, führt dieser beim zivilisierten Menschen zur Verfettung und Obstipation von Millionen. In analoger Weise führt der Mechanismus, der das Nachlassen innerer Spannung zum andressierenden Mittel macht, zu leicht verständlichen Fehlleistungen, indem er außer auf die normalerweise Entspannung erzeugenden Situationen auch auf Giftwirkungen anspricht und so Süchtigkeit nach Alkohol oder Beruhigungsmitteln erzeugt.
Weit davon entfernt, Zweifel am allgemeinen Arterhaltungswert von Lernvorgängen zu
erregen, sind diese Fehlleistungen mehr als alles andere geeignet zu zeigen, in welcher Weise der rezeptorische Apparat funktioniert, in dem jene phylogenetisch erworbene Information steckt, ohne die das Lernen
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eben n i c h t arterhaltend wirksam werden könnte, bzw. welche Leistungsgrenzen diesem Apparat gesetzt sind. Wie alle organischen Mechanismen erfüllt er seine Leistung nur wahrscheinlichkeitsmäßig und unter eng begrenzten Umweltbedingungen. Es ist leicht und billig, Denkmodelle oder Apparate zu erfinden, die „irgend etwas" lernen, d.h. deren Funktionsweise durch vorangegangenes Funktionieren verändert wird. Wenn man mit Systemen von Elektronenröhren operiert, ist es geradezu schwer, ein System auszudenken, daß dies n i c h t in irgendeiner Weise tut. Man versuche jedoch, ein Modell zu konstruieren, das seine Funktionen im Laufe seines Funktionieren mit erdrückender Wahrscheinlichkeit im Sinne einer Verbesserung ihrer systemerhaltenden Wirkung verändert, indem es durch Lernen solche verstärkt, die dieser nützlich, solche aber vermeidet, die ihr schädlich sind. Wer nicht einsieht, daß in dieser Auswahl das Problem steckt, ist des Glaubens an eine prästabilierte Harmonie dringend verdächtig!
Wir kommen somit bei der Diskussion des ersten behavioristischen Argumentes zu dem
Ergebnis: Die „Dichotomie" des Verhaltens und seiner Elemente in „angeborene" und „erlernte" ist tatsächlich irreführend, aber in genau umgekehrtem Sinne, wie HEBB meinte. Es ist in keiner Weise denknotwendig und noch weniger durch irgendwelche experimentelle Tatsachen wahrscheinlich gemacht, daß Lernen in jedwedes phylogenetisch angepaßte System von Verhaltensweisen, geschweige denn in jedes seiner kleinsten Elemente „eingeht".
Zwar enthält jede funktionell ganzheitliche Verhaltensweise, in psychologischer
Ausdrucksweise jede „Handlung" individuell erworbene Information, kurzfristig reaktive Vorgänge, die ihr Jetzt und Hier bestimmen (S. 142), woferne wir von Extremfällen wie etwa dem automatisch-rhythmischen Schwimmen mancher Quallen absehen, deren makroskopisches Verhalten reaktiver Vorgänge entbehrt. Diese kurzfristig reaktiven Vorgänge haben aber mit Lernen nichts zu tun; sie bewirken keine Modifikation der Verhaltens-Struktur, am wenigsten eine adaptive, ja, sie sind geradezu die Antithese zum Lernvorgang, nämlich genau das, was I. P. PAWLOW ihm als „unbedingte Reflexe" begrifflich gegenüberstellte.
Umgekehrt aber ist es nicht nur eine Denknotwendigkeit, sondern steht auch im besten
Einklang mit allen bekannten Tatsachen der Beobachtung und des Experiments, wenn ich hier die jedem Biologen selbstverständliche Behauptung aufstelle, daß jedes Lernen die Funktion eines neurophysiologischen Mechanismus ist, der wie alle anderen Organstrukturen im Laufe der Stammesgeschichte im Dienste seiner arterhaltenden Leistung entwickelt wurde.
Außer den beiden besprochenen „Kanälen", durch welche in das organische System
Informationen über seine Umweltfaktoren hineingelangen können, gibt es k e i n e n d r i t t e n W e g ;
tertium non datur! Wo immer eine Struktur samt ihrer Funktion so beschaffen ist, daß sie auf eine bestimmte Umweltgegebenheit paßt, muß sich einer der beiden Vorgänge oder müssen beide sich abgespielt haben, und es ist, wenigstens prinzipiell, stets erforschbar, in welcher Weise. Kein Biologe, der phylogenetisch und genetisch denken gelernt hat, könnte je auf den Gedanken kommen, man müsse die Begriffe der phylogenetischen Anpassung und der adaptiven Modifikation deshalb fallen lassen, weil in der großen Mehrzahl aller Fälle beide zusammen die Angepaßtheit einer Struktur oder Funktion bewirken. Nicht einmal die Tatsache, daß jeder der beiden Faktoren im Falle einer Phänokopie haargenau dasselbe hervorzubringen vermag, kann als Grund gelten, den beiden Begriffen ihre „analytische Validität" abzusprechen, wie HEBB es tut.
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Auch dürfen die schon S. 142 erwähnten funktionellen Analogien zwischen den beiden Vorgängen des Informationsgewinnes nicht dazu verführen, sie einfach für „dasselbe" zu halten. Wenn beide nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum arbeiten, wenn jeder von ihnen auf einem komplexen eingebauten Mechanismus beruht, der Informationen speichert und in Form angepaßt strukturierten Verhaltens auswertet, so ist dies zwar ein durchaus vernünftiger Grund, für die in solcher Art festgelegten Verhaltensweisen einen übergeordneten Begriff zu schaffen, wie RUSSELL (1958) es tat, der beides als „instinktives" Verhalten dem durch Einsicht variablen begrifflich gegenüberstellt. Es ist aber durchaus kein Grund zu der Annahme, daß die analogen Funktionen ursächlich und physiologisch dasselbe seien. Wir w i s s e n , daß sie das nicht sind. Es ist nicht dasselbe, wenn eine Species mit Mutation und Selektion „experimentiert" und die Ergebnisse in Form von Überleben des Angepaßten „vermerkt", und andererseits wenn ein Einzeltier dies und jenes tut und ein „Engramm" von den zu an- bzw. abdressierenden Reizsituationen führenden Verhaltensweisen zurückbehält. Auch ist dieses „Engramm", was immer es physiologisch sein mag, sicherlich etwas anderes als das gleicherweise als Informationsspeicher wirkende Genom. Man muß sich die biologisch unsinnigen Konsequenzen der behavioristischen Begriffs-Einstampfung klarmachen, um ihre heuristische Schädlichkeit zu erfassen. Keine funktionelle Analogie und keine technische Schwierigkeit der Analyse kann uns je der Pflicht entheben, jegliche Angepaßtheit des Verhaltens auf die beiden voneinander so verschiedenen Quellen zurückzuführen, aus denen die Information über die Umweltgegebenheiten stammt und ohne die keine Anpassung möglich ist.
Schließlich sei noch am Rande auf ein sehr tiefgehendes Mißverständnis ethologischer
Begriffsbildung hingewiesen, das in dem S. 140 als letztem zitierten Satz HEBBS zutage kommt, daß das Wort „Instinkt" — gemeint ist hier der TINBERGENsche Instinktbegriff einer neuralen Organisation — die Annahme eines „nervlichen Vorgangs oder Mechanismus" bedeute, der verschieden von jenen sei, „in welche Lernen eingeht". Wir glauben nicht, sondern wir wissen, daß es nicht nur einen, sondern unzählige „nervliche Vorgänge oder Mechanismen" gibt, in die Lernen „nicht eingeht". Der Verrechnungsapparat, den HOFFMANN beim Star nachgewiesen hat und der den Gang der Sonne beim Ermitteln der Himmelsrichtung in Betracht zieht, der komplizierte
feedback-Mechanismus, der bei Mantiden, wie MITTELSTAEDT 1957 zeigte, den Beuteschlag aufs Ziel richtet, die „innere Uhr", die so vielen Tieren ihren Aktivitäts-Rhythmus vorschreibt, die formkonstante Koordination einer Instinktbewegung, die verschiedenen Mechanismen der Raumorientierung usw. usw., sie alle sind samt und sonders phylogenetisch angepaßt, aber ursächlich und physiologisch so verschieden, wie etwa ein langer Röhrenknochen, eine Leber und eine Vogelfeder voneinander verschieden sind, und aus denselben Gründen. Auch wissen wir nicht, wie viele ähnlich unabhängige neurale Apparate
sui generis noch unentdeckt sind.
Zusammenfassend lautet die Antwort auf das zur Diskussion stehende Argument: Wir
definieren das, was wir seit je als angeboren und als erlernt bezeichnen, nach dem Vorgang, durch den die jeder Anpassung innewohnende Information in das organische System gelangt ist. Die Definition mag neu scheinen, die Begriffsbestimmung ist alt. Wenn wir von Verhalten und seinen Problemen sprechen, haben wir seit je a n g e p a ß t e s Verhalten und die Rätsel der Anpassung im Sinne. Wir erwähnten es stets besonders, wenn von Epiphänomenen ohne Arterhaltungswert die Rede war. Wenn wir von
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angeborenem Verhalten sprachen, meinten wir solches, das s e i n e s p e z i f i s c h e A n g e p a ß t h e i t phylogenetischen Vorgängen verdankt. Wenn wir von Lernen sprachen, meinten wir immer schon adaptive Modifikation des Verhaltens, bewirkt durch die Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt. Auch daß es einen individuellen Informationsgewinn gibt, der keine Modifikation des Verhaltens bewirkt, wohl aber seine reaktive Anpassung an augenblickliche Umweltbedingungen, ist durchaus nicht neu, und daß die Funktion von Taxien und unbedingten Reflexen weder objektiv beschreibend noch introspektiv von derjenigen der „Einsicht" zu trennen ist, hat meine Frau auf dem Instinktkongreß in Leiden im Jahre 1936 entdeckt. Und daß schließlich alle die lebenswichtigen Apparate individuellen Informationsgewinnes phylogenetisch unter dem Selektionsdrucke ihrer Funktion entstanden sein müssen, wußte sicher schon DARWIN. Bei der weiteren Anwendung des Wortes angeboren auf Verhaltenselemente bin ich einer terminologischen Ungenauigkeit in genetischer Hinsicht schuldig, die ich angesichts der nachweislich minimalen Modifikationsbreite besagter Strukturen und Funktionen verantworten zu können glaube.
IV. Kritik des zweiten behavioristischen Argumentes
Die gewaltige Überschätzung dessen, was ein Organismus im Ei oder
in utero lernen kann, entspringt, genau wie der Hauptirrtum des schon kritisierten Argumentes, dem Übersehen der Tatsache, daß es unmöglich ein Zufall sein kann, wenn Einzelheiten des Verhaltens auf solche der Umwelt p a s s e n , und noch dazu so genau, wie es meist der Fall ist. Wenn etwa LEHRMAN (1953) ernstlich die Annahme erwägt, das Hühnchen könne noch im Ei wesentliche Anteile des Pickens dadurch lernen, daß, wie KUO (1932) nachwies, das schlagende Herz seinen Kopf passiv auf- und abbewegt, so vergißt er völlig, uns zu sagen, wieso die in dieser Weise individuell erworbene Bewegung nach dem Ausschlüpfen so genau zur Funktion der Nahrungsaufnahme paßt und woher es kommt, daß andere Vögel, die im Ei gleichen Einwirkungen unterliegen, ganz etwas anderes tun, um Nahrung zu gewinnen: Singvögel sperren, Enten im Wasser machen Seihbewegungen, Tauben bohren den Schnabel in den Mundwinkel der Eltern usw. usw. Das mehr als wunderbare Zusammenpassen von Bewegungsweise und Funktion wird stillschweigend als etwas Selbstverständliches übergangen, obwohl es wahrhaft astronomische Ziffern erheischen würde, die Unwahrscheinlichkeit ihres zufälligen Zustandekommens auszudrücken.
Selbstverständlich kann dieses Passen aber nur für denjenigen sein, der wie JAKOB VON
UEXKÜLL eine prästabilierte Harmonie zwischen Organismus und Umwelt annimmt. Tut man das nicht, so muß man, sofern man ein solches Lernen im Ei für möglich hält, folgerichtiger Weise annehmen, daß ein in der Phylogenese entwickelter besonderer Lehrapparat für das Zustandekommen der auf spätere Erfordernisse der Umgebung abgestimmte Leistung verantwortlich sei, eine Annahme, die sicherlich LEHRMAN und KUO ganz fernlag. So steckt denn paradoxerweise in der Annahme, das Tier könne im Ei oder im Uterus etwas lernen, das auf später eintretende Anforderungen des Lebensraumes paßt, diejenige einer prästabilierten Harmonie, d. h. genau jener „Präformationismus", dessen die Behavioristen in völlig mißverstehender Weise uns Biologen anklagen! Ein erheiterndes Doppel-Paradoxon liegt darin, daß dieser „Präformationismus" der Preis ist, den so viele amerikanische Psychologen dafür bezahlen müssen, daß sie es trotz ihres Lippenbekenntnisses zu Darwin um jeden Preis vermeiden, den Arterhaltungswert und die phylogenetische
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Angepaßtheit des Verhaltens in ihre Betrachtungen einzubeziehen. Dies tun sie deshalb nicht, weil sie jene Begriffe als „finalistisch" oder „teleologisch" verdammen. Für letzteres nämlich halten sie es, wenn ein Biologe etwa sagt, die Katze habe ihre spitzen krummen Krallen, „um Mäuse damit zu fangen". Sie w o l l e n nicht verstehen, daß dies nur eine gekürzte Ausdrucksweise für die Tatsache ist, daß es die Leistung des Mäusefangens war, die jenen Selektionsdruck ausübte, der die Evolution eben dieser Form von Krallen v e r u r s a c h t hat.
Immerhin ist am hier in Rede stehenden Argument prinzipiell richtig, daß gewisse
Lernvorgänge sich schon im Ei oder Uterus abspielen könnten — PRECHTL (1958) hat solche am menschlichen Fötus nachgewiesen — und daß man daher auch bei Experimenten mit radikalstem Erfahrungsentzug nie behaupten könne, a l l e s vorgefundene Verhalten verdanke seine Angepaßtheit ausschließlich dem vorangegangenen phylogenetischen Geschehen. Doch ist der mögliche Fehler, der in dieser Aussage liegen könnte, um viele Zehnerpotenzen kleiner, als viele amerikanische Psychologen auf Grund des oben besprochenen Denkfehlers annehmen.
Oft genug kann man, selbst ohne Experimente mit isolierender Aufzucht anzustellen,
bestimmte Angepaßtheiten des Verhaltens mit Sicherheit auf phylogenetisch erworbene Information zurückführen. Ein junges Springspinnenmännchen, das nach der letzten Häutung sich zum erstenmal einem Weibchen nähert, darf weder eine nahverwandte Art mit der eigenen verwechseln, noch die auslösenden Bewegungsweisen seines Balztanzes in einer anderen als der streng artgemäßen Weise vollführen; sonst bleibt bei der weiblichen Spinne die spezifische Hemmung des Beutemachens aus, und sie frißt den Freier sofort. Das Prinzip von Versuch und Irrtum ist eben dort nicht anwendbar, wo letzterer sofort mit dem Tode bezahlt wird (DREES 1952).
Ein junger Mauersegler, der in einer engen Nisthöhle heranwuchs, in der er nicht einmal
die Flügel ausbreiten, geschweige denn mit ihnen schlagen konnte, der noch niemals einen Gegenstand scharf sehen konnte, weil der fernste Punkt der Höhle seinen Augen stets näher als ihr Nahpunkt war, der noch weniger irgendwelche Erfahrungen über parallaktische Verschiebungen von Sehdingen erwerben konnte, ist vom Augenblick des Ausfliegens an imstande, durch die Bewegungen seiner Flügel und seines Steuers aller vielfachen Anforderungen Herr zu werden, die Luftwiderstand, Turbulenz, Fallwinde usw. usw. an sein Flugvermögen stellen. Er vermag eine exakte Raumorientierung aus der parallaktischen Verschiebung der Netzhautbilder zu gewinnen, Beute zu erkennen und mit gut gezielten Bewegungen zu erschnappen und schließlich mit richtiger Entfernungs-Schätzung an einem geeigneten Punkte zu landen. Die Information über die unzähligen Umweltdaten, die implicite in der Angepaßtheit der erwähnten Verhaltensweise steckt, würde in Worte gefaßt viele Bände füllen. Selbstverständlich ist sie nicht in der Form von Worten oder menschlichen rationalen Operationen gegeben, sondern in anderer, vielleicht sehr viel einfacherer Weise. Es gibt sehr einfache physikalische Vorgänge, die sich, in Termini menschlicher Ratio übersetzt, nicht anders als z. B. in Form des Integrierens oder Differenzierens ausdrücken lassen. Analoges gilt mutatis mutandis für die in Rede stehenden Leistungen, doch wird der hier gezogene Vergleich zwischen der Menge dessen, was ein Tier erfahrungsgemäß wissen kann, und dessen, was ihm in seinem Genom überliefert sein muß, durch diese Überlegungen nicht betroffen. Die Beschreibung der phylogenetisch angegepaßten Entfernungsmesser allein würde ganze Lehrbücher der Stereometrie in sich schließen, die der Flugbewegungen ebensolche der Aerodynamik, usw.
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Wenn man nun in grober Schätzung den Quotienten zwischen der Zahl der Einzel-
Informationen, die ein solches Tier individuell erworben haben kann, und der Zahl derjenigen aufstellt, die es aus seinem Genom entnommen haben muß, so kommt ein winziger Bruch zustande, selbst dann, wenn man für den erstgenannten Vorgang die unwahrscheinlichsten Möglichkeiten zugibt. Selbst wenn wir jenem Mauersegler weit übermenschliche Befähigung zum Lernen darstellender Geometrie zuschreiben, kann er die physiologischen Mechanismen seiner Entfernungsschätzung nicht individuell erworben haben. Betreffs der Flugbewegungen kann er nur weit weniger gelernt haben, als etwa ein Mensch in einem Trockenskikurs vom Skifahren lernt, über Aerodynamik aber überhaupt nichts. Alle Informationen, die er im Ei oder in der engen Höhle erworben haben kann, können nur Daten betreffen, die dort ebenso gegeben sind wie in seiner späteren Umwelt, also erstens Gegebenheiten seines eigenen Körpers und zweitens Tatsachen über allgemeinste und allgegenwärtige physikalische Gesetze. Der Vogel könnte also z.B. gelernt haben, synergistische Muskeln gleichzeitig und antagonistische wechselweise zu innervieren, oder er könnte aus Erfahrungen im Tastraum den ersten Hauptsatz der Physik entnommen haben und „wissen", daß zwei Körper nicht gleichzeitig am gleichen Orte sein können. Selbst wenn man die gewaltigen Unwahrscheinlichkeiten der Annahmen außer acht läßt, daß 1. so einfache motorische Koordinationen erlernt seien — man weiß das Gegenteil aus Arbeiten von E. VON HOLST und anderen — und daß 2. der Vogel imstande sei, das taktil Gelernte in optischer Raumorientierung zu verwerten, so ist immer noch die Zahl der Einzelinformationen, die er möglicherweise individuell erworben haben könnte, ein winziger Bruchteil des gewaltigen Informationsschatzes, der ihm in seinem Genom gegeben ist. Die Aussage des naiven Ethologen, daß Verhaltensweisen wie die oben als Beispiele angeführten „rein angeboren" seien, ist also, was die Quantität ihrer ziemlich genau schätzbaren Ungenauigkeit betrifft, weit exakter, als etwa die Behauptung, eine Dampflokomotive oder der Eiffelturm sei „ganz" aus Metall gebaut! Mit anderen Worten, sie erreicht eine Exaktheit, die wissenschaftlichen Aussagen auf biologischem Gebiet nur äußerst selten beschieden ist.
V. Kritik an der Einstellung moderner Ethologen
Was ich hier diskutieren möchte, ist nur die einleitend erwähnte Annahme, daß das, „was wir früher angeboren nannten", und das, „was wir früher als erlernt bezeichneten", nur die extremen Endglieder einer stufenlosen Reihe von Misch- und Übergangsformen zwischen beiden seien, sowie daß die häufig feststellbare reinliche Trennung beider nur scheinbar und jeweils das Ergebnis eines besonderen Selektionsdruckes sei. Ich glaube zeigen zu können, daß diese Annahmen nicht nur heuristisch ungünstig, sondern schlechthin falsch sind.
Ebenso steckt ein Denkfehler in der oben (S. 141) wiedergegebenen Überlegung, daß eine
wenn nicht unendliche, so doch praktisch unerreichbare Zahl kontrollierter Versuche mit Erfahrungsentzug nötig ist, um das Angeborensein eines Verhaltenselementes behaupten zu können. Der Irrtum steckt im übersehen der Tatsache, daß jede A n g e p a ß t h e i t des Verhaltens an eine bestimmte Gegebenheit der Umwelt nur aus der Auseinandersetzung mit eben dieser und keiner anderen Umweltgegebenheit entstanden sein kann. Da diese, abbildende Information liefernde Auseinandersetzung aber nur entweder in der S. 142 diskutierten phylogenetischen „Induktion" liegen kann, oder aber in ihr und zusätzlich in den von ihr hervorgebrachten, wohlangepaßten Lernmechanismen (S. 144), lautet die Fragestellung nicht allgemein, was angeboren
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und was umgebungsbedingt sei, sondern sehr viel spezieller, ob das zu untersuchende Verhaltenselement in Gänze auf Grund genomgebundener Information funktionsfähig sei, oder ob es zusätzlicher Lehrvorgänge bedürfe, um dies zu werden, und worin diese bestünden. Der Nachweis spezieller Angepaßtheit eines Verhaltenselementes besagt immer, daß es im Dienste einer bestimmten arterhaltenden Funktion entstanden sei, doch braucht man diese nicht zu kennen, geschweige denn nachgewiesen zu haben, um aus der Entsprechung zwischen Verhaltenselement und Umwelt obige Schlüsse zu ziehen.
Wenn also ein Stichling auf die Konfiguration „unten rot" mit Rivalenkampf antwortet
und der Rivale tatsächlich unten rot ist, oder wenn ein Webervogel eine Bewegung ausführt, die, auf einen Grashalm angewandt, diesen an einen Ast knotet, und wenn die spezielle Angepaßtheit dieser Verhaltenselemente sich in der Ontogenese eines Stichlings, der nie einen Rivalen gesehen hat, oder eines Webervogels, der keine Erfahrung mit Grashalmen hat, in unveränderter Weise entwickelt, so genügt im Prinzip dieser einzige Befund zum Nachweis, daß die „Planskizze" der gesamten Struktur besagter Elemente im Genom vorhanden sei. Daran ändert es nichts, wenn etwa dauernde Einwirkung von Licht auf die Retina, Copepodenfutter oder irgendwelche andere, im Versuch veränderbare Faktoren ebenfalls als zur Ausbildung der betreffenden Reaktions- oder Bewegungsweisen notwendig befunden werden sollten: So unentbehrlich sie als Lieferanten unstrukturierter Bausteine für die ontogenetische Verwirklichung der ererbten Planskizze sein mögen, zusätzliche Information über deren anpassungswesentliche Strukturierung können sie unmöglich enthalten.
Ich betone hier besonders die Struktur, weil sie von der zu kritisierenden Lehrmeinung
vergessen wird. Die im Genom vorhandene „Planskizze" des angeborenen Verhaltenselements enthält einen sehr großen Schatz von Informationsdaten, der unmöglich anders in fruchtbringende arterhaltende Wirkungen umgesetzt werden kann, als durch Ausbildung entsprechend organisierter Strukturen des rezeptorischen und effektorischen Apparates. Da mir ein spezifisch angepaßter Prozeß nur als Funktion ebensolcher Strukturen denkbar ist, kann ich den Gedankengang nicht nachvollziehen, der zu der oft gehörten Aussage führt, das Wort „angeboren" dürfe nur auf Vorgänge, nicht aber auf Merkmale angewendet werden.
Alle hier kritisierten Denkfehler moderner Ethologen sind identisch mit denen
behavioristischer Lehrmeinung: Der irrige Glaube, mit „Operationellen", d. h. nur durch praktische Möglichkeit experimenteller Prüfung bestimmten Begriffen allein auskommen zu können, ja zu müssen, führt notwendigerweise zum Ausklammern der phylogenetisch gewordenen, durch den Selektionsdruck ihrer Funktion bestimmten Strukturen und damit, in letzter bitterer Konsequenz, des ganzen Organismus.
Ebenfalls mit behavioristischen Lehrmeinungen verwandt ist die Anschauung, daß
individuelle Modifikation sich grundsätzlich in jede Verhaltensweise, bis hinab in die kleinsten Elemente, mischen könne (S. 141). Gegen die Annahme einer diffusen Mischbarkeit phylogenetischer und modifikatorischer Anpassung des Verhaltens spricht alles, was in Kritik des ersten behavioristischen Argumentes angeführt wurde. Die unbestreitbare oder doch nur von „Präformationisten" bezweifelbare Tatsache, daß jeder Verbesserung des Verhaltens durch Lernen ein
ad hoc in der Phylogenese entstandener neuraler Apparat zugrundeliegen muß, schließt von vornherein aus, daß derartige Apparate in unendlicher Zahl vorhanden seien, wie es der Fall sein müßte, wenn Lernen an beliebiger Stelle des Verhaltensinventars einer Tierart angreifen könnte.
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Schließlich spricht noch ein trotz seines spekulativen Charakters recht zwingendes
Argument gegen die Annahme einer allgemeinen und ausnahmslosen Modifizierbarkeit phylogenetisch angepaßter Verhaltensorganisationen durch Lernen. Wenn ein solches System so hohe Grade der konstruktiven Komplikation erreicht, daß nur ein mathematisch und kybernetisch hochgebildeter Mensch imstande ist, den Mechanismus zu verstehen, wie etwa beim
feedback-System
, das bei Mantiden das Zielen beim Beuteschlagen bewerkstelligt (MITTELSTAEDT 1957), oder beim Verrechnungsapparat, der bei Vögeln (KRAMER, HOFFMANN 1952) und bei Fischen (BRAEMER 1959) unter Einbeziehung der Tageszeit die Himmelsrichtung aus dem Sonnenstand entnimmt, so ist wohl mit Sicherheit auszuschließen, daß ein solcher Apparat an beliebiger Stelle durch Lernen veränderlich sei. Ich weigere mich jedenfalls zu glauben, daß die
Mantis oder der Star imstande seien, durch Lernen ein System adaptiv zu modifizieren, daß ich trotz angestrengten Lesens der betreffenden Arbeit nur mit größter Mühe und auch dann nicht völlig zu verstehen vermag! Ich behaupte vielmehr, daß ein solches System als ganzes gegen jede, auch die kleinste Veränderung durch individuelles Lernen resistent sein muß, weil diese seine lebensnotwendige Präzision zerstören würde, es sei denn, daß ein Lernmechanismus mit eng begrenzter, konstruktiv vorgesehener „Leistung" an ganz bestimmter Stelle eingebaut sei.
Selbst bei uns Menschen sind Verrechnungsapparate von so hoher Komplikation meist so
gebaut, daß sie der Beeinflussung durch Lernen, ja der Selbstbeobachtung durchaus unzugänglich sind. Obwohl ihre Funktion oft echten Verstandesleistungen in so vielen Punkten analog ist, daß E. BRUNSWIK sie mit Recht als „ratiomorph" bezeichnete, lassen sie sich durch die
ratio in keiner Weise beeinflussen oder korrigieren. Nahezu alle „optischen Täuschungen" beruhen darauf, daß einer dieser ratiomorphen Vorgänge in logisch richtiger Konsequenz, aber auf Grund einer eingeschmuggelten falschen Prämisse, unbelehrbar ein falsches Ergebnis vermeldet. Wo sich in und zwischen derartigen neuralen Apparaten Leistungen adaptiver Modifikabilität eingebaut finden, sitzen sie wiederum nachweisbar an genau „vorgesehener", phylogenetisch angepaßter Stelle.
Es sind jedoch keineswegs nur diese theoretischen Erwägungen, die gegen die Annahme
einer diffusen Modifikabilität phyletisch angepaßter Verhaltensmechanismen sprechen. Alle bekannten Beobachtungstatsachen und Versuchsergebnisse deuten übereinstimmend darauf hin, daß jeder Lernleistung ein in der Phylogenese der betreffenden Art unter dem Selektionsdruck der betreffenden Funktion entstandener Mechanismus zugrundeliegt. Wie eng begrenzt und wie sehr
ad hoc differenziert solche Mechanismen sind, geht schon daraus hervor, daß sie häufig nur ein ganz bestimmtes Verhaltenssystem zu modifizieren imstande sind. So vermögen Bienen als Signale für Futter nur regelmäßige, womöglich radiärsymmetrische Figuren zu erlernen, als Wegemarken dagegen auch solche von beliebiger, unregelmäßiger Konfiguration. In keinem einzigen Fall ist bei einem der vorerwähnten komplexen, phylogenetisch angepaßten Mechanismen des Verhaltens eine modifikatorische Veränderlichkeit an anderer als an einer bestimmten, vorgeformten Stelle nachgewiesen worden. M. a. W., die naive Theorie von der „Verschränkung" von lernresistenten mit durch Lernen modifizierbaren Verhaltensmechanismen ist nicht nur nicht widerlegt worden, sondern hat sich als fähig erwiesen, eine Menge von Vorgängen einzuordnen, die von anderen Forschern entdeckt und mit anderer Problemstellung untersucht wurden, wie auf Vorgänge der sog. Sinnesadaptation und der Gewöhnung, auf solche der Fernorientierung, auf Zielmechanismen, auf die „innere Uhr" der circadischen Rhythmen und
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schließlich auch auf komplexe Formen zielstrebigen Verhaltens. Immer wieder ergibt eine System- und ganzheitsgerechte Analyse der Ontogenese sowohl wie der Regulationsfähigkeit tierischen Verhaltens, daß Lernvorgänge stets an ganz bestimmten „präformierten" Stellen eingebaut sind und dort ebenso scharf umschriebene Arterhaltungsleistungen vollbringen. Aus der Konstanz beider ergibt sich ein starkes Argument gegen die Annahme einer diffusen Veränderlichkeit phylogenetisch angepaßter Verhaltensweisen durch Lernen. Das mögen ein paar Beispiele für die verschiedenen Funktionen belegen, die Lernen an verschiedenen, aber stets sehr bestimmten Stellen des Aktionssystems entwickelt. Diese Beispiele können nur nach funktionellen Gesichtspunkten angeordnet werden, da über die physiologische Natur analoger Leistungen kaum etwas bekannt ist.
Wie THORPE (1956) betont hat, ist die einfachste und sicher phylogenetisch älteste Form einer adaptiven Modifikation des Verhaltens das Abflauen und schließliche Verschwinden der Reaktion auf biologisch bedeutungslose Reize, die sich in längerer Folge wiederholen. THORPE definiert diesen Vorgang, den man als Gewöhnung zu bezeichnen pflegt, als „den verhältnismäßig langandauernden Schwund der Reaktion, der als Folge einer wiederholten Reizung eintritt, die nicht von einer andressierenden Reizsituation gefolgt wird"
("the relatively persistent waning of a response as a result of repeated stimulation which is not followed by any kind of reinforcement"). Obwohl diese Definition für sehr viele Fälle der Reizgewöhnung sehr gut zutrifft, scheint mir doch die zweite der gewählten Bestimmungen zu speziell auf jene besonderen Arten der Reizgewöhnung zugeschnitten, die mit der sog. Auslöschung einer bedingten Reaktion verwandt sind. Selbstverständlich ist der funktionelle Begriff der Gewöhnung nur injunktiv zu fassen, und es ist Geschmacksache, wie viele der charakteristischen Bestimmungen man in die Definition aufnehmen will. Ich glaube jedoch, daß die ganz spezielle arterhaltende Funktion, die ich hier diskutieren möchte, auch völlig ohne Mitspielen an- und abdressierender Reizsituationen vorkommt und auch bei solchen Lebewesen, die, wie etwa Protisten und Coelenteraten, zur Ausbildung bedingter Reflexe, soweit wir heute wissen, nicht befähigt sind. Dagegen möchte ich eine für diese arterhaltende Leistung höchst wesentliche andere Eigenschaft der Gewöhnung in ihre Definition aufnehmen, auf die ebenfalls THORPE, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, hingewiesen hat, nämlich auf ihr höchst selektives Gebundensein an die oft komplexe Reizsituation, die sie erzeugt. Es ist durchaus richtig, daß, wie THORPE betont, die unselektive Auslösbarkeit einer Reaktion durch vielerlei verschiedene Reize das Leben unmöglich machen würde, wenn sie alle in automatenhafter, immer gleicher Weise beantworten würden. Ebenso wesentlich aber ist es, daß der Schwellenwert anderer Reize, die die gleiche Reaktion auslösen, durch den Gewöhnungsvorgang nicht betroffen wird bzw. im Interesse der Arterhaltung nicht betroffen werden darf. Schon Protisten und Coelenteraten sind dazu imstande: Ein seitlicher Wasserstrahl löst zunächst Kontraktion aus, nach häufiger Wiederholung aber nicht mehr, während die Schwellenwerte anderer kontraktionsauslösender Reize, wie solche der Erschütterung oder Berührung, nicht verändert werden (JENNINGS 1904).
THORPE spricht die Vermutung aus, die komplexeren und selektiveren
Auslösemechanismen höherer Tiere seien gegen Gewöhnung gefeit und eine solche trete nur dann ein, wenn in einer großen Zahl von Fällen keine zielbildende Endhandlung nebst der dazugehörigen Reizsituation auf die primär
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auslösenden Reize folge und abdressierend wirke. Diese Regel darf wohl nicht verallgemeinert werden. Bei fluchtauslösenden Mechanismen muß doch wohl das Fliehen selbst in seinen besonderen artbezeichneten Bewegungsweisen als zielbildende Endhandlung betrachtet werden, und doch tritt gerade hier Gewöhnung in ausgesprochenster Form ein. Bei der Graugans wird die Flucht vor dem einzigen ihr gefährlichen Raubvogel, dem Seeadler
(Haliaëtus albicilla L.) gemäß einem verhältnismäßig einfachen AAM ausgelöst, nämlich durch jedes Objekt, das sich gegen den freien Himmel abzeichnet und gleitend, in Eigenlängen gemessen langsam, fortbewegt. Rasche Flügelschläge zerstören die Wirkung sofort, ganz langsame scheinen sie zu fördern, was indessen von TINBERGEN, der diese Dinge 1937 in Altenberg untersuchte, nicht experimentell nachgeprüft wurde. Die geringe Zahl und verhältnismäßige Einfachheit der erwähnten Schlüsselreize bringt es mit sich, daß n e b e n dem Seeadler noch sehr viele andere Objekte auslösend wirken. Eine dunkle Feder, die langsam im Winde treibt, eine Taube oder Dohle, die gegen starken Gegenwind gleitend angeflogen kommt, ein Bussard oder ein Flugzeug hoch am Himmel sind alles Attrappen, die an Wirkung einem wirklichen Adler gleichkommen. Aber mit häufiger Wiederholung jeder einzelnen dieser Reizsituationen verliert sie ihre auslösende Wirkung sehr rasch durch Gewöhnung. Jede dieser Gewöhnungen aber ist spezifisch für die betreffende Reizsituation. Der Schwellenwert der Reaktion auf einen Bussard oder Reiher wird durch Gewöhnung an Flugzeuge nicht geändert, der auf den wirklichen Adler nicht durch alle „irrtümlichen" Reaktionen zusammen.
Die hohe Selektivität der Gewöhnung wird noch besser durch ein anderes, wenn auch
nicht experimentell analysiertes Beispiel illustriert. Als wir unsere Enten und Gänse auf den Ess-See, ein uneingezäuntes und von Füchsen stark heimgesuchtes Gelände, übersiedelten, befürchteten wir, die Gewöhnung an unsere äußerlich sehr fuchsähnlichen Chow-Schäferhund-Mischlinge könnte die Reaktion unserer Vögel auf Füchse in gefährlicher Weise abgestumpft haben. Dies war durchaus nicht der Fall; ja die Gewöhnung erwies sich als an die Individualität unserer Hunde gebunden: fremde Hunde aller Rassen lösen nach wie vor dieselbe Reaktion aus wie ein am anderen Seeufer entlangschnürender Fuchs. Diese Beobachtung zeigt so recht, wie gerade das selektive Gebundensein der Gewöhnung an eine einzige, höchst komplexe Reizsituation für ihren Arterhaltungswert wesentlich ist. Gewiß ist es ein Nutzen des eben beschriebenen Vorgangs, daß die Wildgänse nicht unnötigerweise alle paar Minuten auf- und ins Wasser fliegen, sooft ein Hund vorbeikommt; die Hauptsache aber ist es, daß das häufige Vorüberkommen des Hundes die Reaktion auf den Fuchs nicht abschwächt.
Gleichzeitig aber drängt sich dabei ein völlig ungelöstes Problem auf. Reaktionsschwund
nach wiederholtem Eintreten derselben Reizsituation ist eine sehr allgemeine Erscheinung und ist weder an einfache, unselektive Auslösemechanismen gebunden, noch auch, soviel wir wissen, an biologisch bedeutungslose Reizsituationen. Hochselektive und arterhaltend extrem wichtige Reaktionen, wie etwa das von R. HINDE (1954) untersuchte Hassen des Buchfinken auf Eulen, schwinden nach wiederholter Auslösung bis zum fast völligen Verlust ihrer arterhaltenden Funktionsfähigkeit. Versuche, diesem Schwund durch andressierende Reizsituationen entgegenzuwirken, z. B. indem man den Buchfinken mit der Attrappe bedrängte und ihm dabei Federn ausriß, blieben ohne jede Wirkung. Die Frage ist nun, ob in den Versuchsanordnungen irgendein wesentlicher Fehler unerkannt blieb, oder ob unter den natürlichen Bedingungen des Freilebens die Reaktion ebenso schnell und irreversibel abflaut. Angesichts der hohen Differenzierung und des offensichtlichen
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Arterhaltungswertes fällt es schwer, dies zu glauben. Den im Sinne der Arterhaltung so unerwünschten Reaktionsschwund als „Adaptation" zu bezeichnen, erscheint mir recht mißverständlich. In Versuchen, in denen wir bei jungen Graugänsen die Reaktion auf den elterlichen Warnlaut durch stimmliche Nachahmung, grobe Lautattrappen und Bandaufnahmen warnender Wildgänse auslösten, zeigte sich stets derselbe rasche Schwund, wie ihn HINDE (1954, 1960) am Hassen des Buchfinken und an anderen Vorgängen beschrieben hat. Dagegen ist ohne weiteres zu beobachten, daß von ihren Eltern geführte junge Gänse völlig unveränderlich und ohne jeden Schwund auf beliebig oft wiederholtes Warnen der Eltern ansprechen. Dies legt die Vermutung nahe, daß vielleicht die Unvollständigkeit der im Versuch gebotenen Reizsituation, die nur wenige und vielleicht schwächere Schlüsselreize bietet, die Ursache des raschen Reaktionsschwundes ist. Eine andere, interessante Möglichkeit aber wäre es vielleicht, daß die Einförmigkeit der Begleitumstände, unter denen experimentelle Reizungen dieser Art vorgenommen werden, eine Reiz-„Adaption" bewirkt, die im Freileben deshalb ausbleibt, weil dort die Reaktion kaum zweimal unter völlig gleichen Begleitumständen ausgelöst wird. Es ist auch eine stets wiederholte Erfahrung bei Attrappenversuchen aller Art, daß gleicher Ort, gleichförmige Bewegung, rhythmische Wiederholung desselben Lautes usw. zu raschestem Schwinden anfänglich starker Reaktionen führen (W. SCHLEIDT, F. SCHUTZ, in Vorbereitung).
Beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens sind über die physiologische Verursachung
der Gewöhnung nur Vermutungen möglich. Gewöhnung mag vielleicht in ihren Ursachen mit Ermüdung verwandt sein; vielleicht ist sie phylogenetisch dadurch aus Ermüdungsvorgängen entstanden, daß diese immer spezifischer werdende Bindungen an die sie hervorrufenden komplexen Reizsituationen entwickelten. Mit einiger Sicherheit aber läßt sich behaupten, daß sehr verschiedene
Arterhaltungsleistung führen können. Bei der Gewöhnung der Wildgänse an bestimmte Hundeindividuen spielen ganz sicher Vorgänge komplexester Gestaltwahrnehmung mit; bei der Gewöhnung der Hydra an lokale Wasserströme ist dies ebenso sicher nicht der Fall. Wenn ich im Obigen Beispiele gewählt habe, in denen die arterhaltende Leistung der Gewöhnung ohne Abdressur der Reaktion durch Ausbleiben andressierender Reizsituationen zustande kommt, so geschah dies nicht etwa in der Absicht, zu leugnen, daß Abdressur eben dieselbe Leistung vollbringen kann, was sie sicher in unzähligen Fällen tut, sondern nur um dem durch die erste THORPEsche Definition vielleicht entstehenden Eindruck entgegenzuwirken, daß Reizgewöhnung immer von Dressurvorgängen vom Typus der bedingten Reaktion abhängig sei. Dies ist sie zweifellos nicht, was hier auch deshalb besonders betont sei, weil für die im folgenden Abschnitt zu besprechende Lernleistung Gleiches gilt.
Im gewöhnlichen Sprachgebrauch kann das Wort „Gewöhnung" auch bedeuten, daß sich ein dem im vorigen Abschnitt besprochenen genau reziproker Vorgang abspielt. Bei jenem wird ein Komplex zusätzlicher Reize mit den angeborenermaßen auslösenden Schlüsselreizen zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen, in der die letzteren i h r e a u s l ö s e n d e W i r k u n g v e r l i e r e n . Bei dem nun zu erörternden Prozeß wird ebenfalls durch häufige Wiederholung ein erlernter Reizkomplex mit den Schlüsselreizen verwoben; aber dabei v e r l i e r e n n i c h t die in der so neu
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entstandenen Reizkombination enthaltenen Schlüsselreize i h r e
s o n d e r n a l l e a n d e r e n R e i z k o m b i n a t i o n e n , auch wenn sie dieselben angeborenen Schlüsselreize in sich schließen und daher primär auslösend waren. Die so entstehende Vermehrung der ursprünglichen Selektivität eines phylogenetisch angepaßten Auslösemechanismus kann, wie der vorher besprochene Reaktionsschwund, ohne Beteiligung bedingter Reaktionen zustandekommen.
Eine junge Graugans folgt unmittelbar nach dem Verlassen des Nestes jeder beliebigen
führenden Gans nach, wenige Tage später nur mehr ihrer Mutter. Bedingte Reaktionen in Form einer Abdressur spielen dabei sicher keine Rolle, denn junge Gänschen, die während der ersten Lebenstage die Mutter verloren haben und fremden Gänsen nachfolgten, wobei sie Schreckliches und unzweifelhaft Abdressierendes erlebten, sind in der Folge nicht weniger, sondern mehr geneigt, denselben Irrtum zu begehen, als Geschwister, die das nie taten. Bei sehr vielen Vogelarten nehmen Elterntiere während der ersten Lebenstage ihrer Jungen auch fremde an, etwas später aber nicht mehr. Ein frischgefangener Vogel nimmt sein Futter aus jedem beliebigen Gefäß; einer, der jahrelang im gleichen Käfig lebte, weigert sich lange, ehe er aus einem neuen Napf frißt. Der phylogenetisch angepaßte Auslösemechanismus wird in solchen Fällen um eine ganze Anzahl von „Bedingungen" bereichert, und zwar ohne daß eine Abdressur anderer Reizsituationen stattgefunden hätte, ein Vorgang, der schon den klassischen Untersuchern der bedingten Reaktion durchaus bekannt war.
Ein verwandter, wenn auch durch weitere Eigenschaften gekennzeichneter Vorgang ist die
sogenannte P r ä g u n g . Es ist eine alte Faustregel, daß kein AAM selektiver ist als notwendig, um mit genügender Wahrscheinlichkeit ein „irrtümliches" Ansprechen zu verhindern. Bei geselligen und vor allem brutpflegenden Arten ist ein Zusammentreffen erfahrungsloser Jungtiere mit anderen Wesen als mit Artgenossen so unwahrscheinlich, daß es völlig ausreicht, wenn höchst unselektive Auslösemechanismen ein erstes Ansprechen der auf Artgenossen gemünzten Verhaltensweisen bewirken, während es individuellen Erwerbungsvorgängen überlassen bleibt, eine für das spätere Leben ausreichende Selektivität zu erzeugen. In manchen Fällen — eben jenen, die den Kern des eigentlichen Prägungsphänomens darstellen — ist dieser Erwerbungsvorgang auf eine sehr kurze und scharf umschriebene Periode des individuellen Lebens beschränkt und schwer oder nicht rückgängig zu machen. Diese Selektivität in bezug auf die Zeit kompensiert gewissermaßen die Unselektivität der Auslösemechanismen. Die Nachfolgereaktion der frischgeschlüpften Graugans wird durch folgende als Schlüsselreize wirksame Konfigurationen auf ihr Objekt fixiert: 1. Kurze, rhythmisch sich wiederholende Töne oder Geräusche, die vor allem dann wirksam werden, wenn sie als „Antwort" auf das „Pfeifen des Verlassenseins" folgen. 2. Bewegung des diese akustischen Reize aussendenden Objekts vom Gänschen weg. Läßt man ein Gänschen unter einer Kunstglucke trocken werden, die diese Schlüsselreize zu geben vermag, so hört man das Pfeifen des Verlassenseins zum ersten Male stets dann, wenn das Tier unter der Glucke hervorgekrochen ist. Läßt man nun als „Antwort" durch einen eingebauten Lautsprecher oder Summer ein Geräusch, am besten in rhythmischer Wiederholung, ertönen, s o b l i c k t d a s G ä n s c h e n z u r A t t r a p p e e m p o r und vollführt die „Grußbewegung", d.h. eine schwache Intensitätsstufe des sog. Triumphgeschreies. Wenn man dies sich während mehrerer Stunden regelmäßig wiederholen läßt, so folgt das Gänschen der Attrappe sofort dicht aufgeschlossen nach, wenn sie sich fortzubewegen beginnt.
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Nach diesem Vorgang, der sich selbstverständlich im Freileben zwischen Kind und Mutter in gleicher Weise abspielt, ist die Nachfolgereaktion des Jungen auf das betreffende Objekt fixiert, und zwar zumindest insofern irreversibel, als ein Wechsel des Objekts nur sehr schwer und stets nur mit großer und dauernder Abnahme der Reaktionsintensität zu erzwingen ist.
Obwohl die Bindung einer bestimmten Reaktion an ein bestimmtes Objekt zweifellos von
der früher gegebenen, sehr weiten Definition des Lernens mit einbegriffen wird, hat sie doch eine Reihe von Eigenheiten, die sie von anderen Lernvorgängen, vor allem dem Ausbilden bedingter Reaktionen, unterscheiden. Die erste und wohl wichtigste ist, daß die Reaktion, ohne jemals ausgelöst worden zu sein, nur dadurch bedingt ist, daß das Tier einer spezifischen Reizsituation ausgesetzt war. Dies ist ebenso merkwürdig und für die Prägung kennzeichnend wie ihr Gebundensein an eine bestimmte Phase der Ontogenese und ihre Irreversibilität. Eine weitere und vorläufig noch höchst rätselhafte Eigenschaft der Prägung liegt darin, daß sie die betreffende Reaktion des Jungtieres an Reize koppelt, die nicht das individuelle Objekt kennzeichnen, sondern seine Art oder Gattung. Junge Wildgänse, deren Nachfolgereaktion „auf Menschen geprägt" ist, folgen zunächst allen Menschen nach, die sich angemessen bewegen. Bei Gänschen, die von ihrer Mutter geführt werden, kann Entsprechendes in den ersten Tagen nach dem Verlassen des Nestes auch geschehen; aber wenn es unterbleibt, verwechseln sie vom dritten Tag ab niemals andere Gänse mit ihren Eltern. Dagegen dauerte es über drei Wochen, um den Gänsen zweier von Menschen geführten Scharen die Unterscheidung zwischen einem großen bärtigen Mann — mir selbst — und einem untermittelgroßen blonden Mädchen — Margret Schleidt — anzudressieren. Es wirft ein interessantes Licht auf die spezielle Angepaßtheit der Gestaltwahrnehmung der Gans, daß es ihr schwerer fällt, die individuellen Unterschiede zwischen zwei äußerlich so ungleichen Menschen zu lernen, als diejenigen, die zwischen den Physiognomien zweier für das menschliche Auge kaum zu unterscheidender Graugänse bestehen.
Sehr wahrscheinlich sind die beiden Vorgänge, die erst die Nachfolgereaktion der jungen
Gänse auf Wesen einer bestimmten Art und dann in einem zweiten, gewaltigen Zunehmen der
Selektivität auf ein bestimmtes Individuum einstellen, physiologisch voneinander durchaus
verschieden. Dafür spricht auch ihr unabhängiges Auftreten bei verschiedenen Arten einer
immerhin so engen Verwandtschaftsgruppe, wie die Anatiden es sind. Die
♀♀ prachtkleidtragender Entenarten bedürfen keiner Prägung sexueller Reaktionen; diese werden
gemäß AAMs durch artgleiche
♂♂ auch dann ausgelöst, wenn das betreffende
♀ sein ganzes
Leben lang in Gesellschaft einer anderen Art verbracht hat. Dagegen spielt sich ein individuelles
Kennenlernen des Partners genauso ab wie etwa bei Gänsen. Bei der unehigen und
prachtkleidlosen Türkenente,
Cairina moschata L., findet eine echte irreversible Prägung
geschlechtlicher Reaktionen auf die Art des Objektes statt, dagegen fehlen bei ihr sichere
Anzeichen für ein individuelles Sichkennenlernen der Partner.
Unter den besprochenen Beispielen von Zunehmen der Selektivität einer Reaktion durch
Lernen habe ich absichtlich zunächst solche hervorgehoben, die nicht dem Schema der klassischen bedingten Reaktion folgen, bei denen also das Hinzulernen weiterer Bedingungen der Reaktionsauslösung nicht unter der Wirkung andressierender
(reinforcement) und abdressierender Reizeinwirkungen erfolgt. Das soll nicht heißen, daß letzteres nicht ebensooft oder noch häufiger vorkommt. Wenn junge Erdkröten, wie EIBL beobachtete, unmittelbar nach der Metamorphose nach allen möglichen bewegten Gegenständen
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bestimmter Größenordnung, Steinchen, Grasspitzen usw. schnappen, dies aber nach kurzer Zeit nicht mehr tun, so beruht dies nicht auf einer Gewöhnung im Sinne des im vorhergehenden Abschnitt besprochenen Vorgangs; vielmehr wird den Kröten die Reaktion auf Ungenießbares durch das Wegbleiben der zielbildenden Endhandlung abdressiert (EIBL-EIBESFELDT 1951).
Eine besondere Art modifikatorischer Einwirkung auf sehr komplexe und bis in kleinste Einzelheiten phylogenetisch angepaßte Mechanismen des Verhaltens stellen die Vorgänge der Eichung von Zielmechanismen dar, vergleichbar dem Einschießen eines Gewehres, wie auch die Einstellung circadischer Rhythmen durch Zeitgeber. Beide fallen unter die sehr weite Begriffsbestimmung des Lernens, wie sie hier bisher verwendet wurde, doch ist es zumindest zweifelhaft, ob sie mit der Ausbildung bedingter Reaktionen zu tun haben.
Zielmechanismen können, wie vor allem MITTELSTAEDT (1957) an Mantiden gezeigt hat,
auf höchst kompliziert gebauten Regelkreisen beruhen, in denen die Information über bereits vollzogene Bewegung, die aus der Bildverschiebung im Auge und aus Propriozeptoren gewonnen wurde, dem Bewegungsapparat erneut zugeführt wird und so eine höchst genaue Einstellung des Beuteschlagens auf das Ziel ermöglicht. Das Vorhandensein eines der Eichung dienenden Mechanismus in einem solchen System von Regelkreisen ist keine theoretische Notwendigkeit, wird aber dadurch wahrscheinlich, daß die Folgen mancher operativer Störungen einige Zeit nach dem Eingriff bis zu einem gewissen, wenn auch sehr geringen Grad kompensiert werden. Junge Hühnchen, denen E. HESS Prismenbrillen aufsetzte, die das gesehene Bild um einige mm seitlich verschoben, lernten es nie, diese Verschiebung zu kompensieren. Bei Verwendung symmetrischer Prismen, die eine kleine scheinbare Annäherung der Sehdinge bewirkten, pickten die Vögel zunächst zu kurz, lernten es aber allmählich, diesen Fehler zu kompensieren; dies gelang nur dann, wenn die aufzupickenden Körnchen auf der Ebene lagen, auf der die Hühnchen standen. Nach frei in der Luft an dünnen Drähten vorgehaltenen Nahrungsbrocken pickten sie andauernd zu kurz.
Bei Ameisen, die es lernen, einen bestimmten Weg vom und zurück zum Neste zu
steuern, sitzt das Lernen ebenfalls an präformierter Stelle und an einem ganz bestimmten Punkt des komplizierten Regelsystems, das die Licht-Kompaß-Orientierung bewirkt. Beim Auslaufen vom Nest steht das Tier bei Lichtreizung unter dem Einfluß einer positiven Phototaxis bzw. einer negativen Geotaxis bei Schwerkraftreizung, die, wie bei Insekten so oft, vikariierend gegeneinander austauschbar sind. Wenn die Auslaufstimmung der Ameise in Heimlaufstimmung umschlägt, ändert sich das Vorzeichen dieser Orientierungsreaktionen. Daß nun das Tier imstande ist, nicht nur diesen einfachen Taxien zu gehorchen, sondern einen „willkürlich" gewählten oder auch durch Dressur festgelegten Kurs hin- und zurückzusteuern, wird durch die Mitwirkung eines anderen sehr komplexen zentralnervösen Mechanismus bewerkstelligt, der ebenfalls Drehtendenzen, das sog. „Drehkommando", erzeugt, die sich denjenigen der vorerwähnten Taxien überlagern und die Ameise aus ihrem rein photo- bzw. geotaktisch bestimmten Kurs um einen dosierten Winkelbetrag abdrängen. In die Bestimmung dieses Winkelbetrages gehen nun, wie bei so vielen Organismen (Vögeln, Fischen, Insekten, Krebsen), die längere Zeit einen geraden Kurs relativ zur Sonne steuern können, die
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Leistungen eines Verrechnungsapparates ein, der die tageszeitlichen Verschiedenheiten der Sonnenrichtung kompensiert, außerdem aber auch Lernvorgänge. Die Ameise vermag das Gesamtmuster der optischen Reize, das die weitere Umgebung des Nestes kennzeichnet, derart auszuwerten, daß sie seinen Helligkeitsschwerpunkt ermittelt und einen konstanten Winkel zu ihm einhält. Umwege können mit Hilfe eines zweiten Integrationsapparates gemeistert werden, der imstande ist, die beim Aus- und Zurücklaufen eintretende Folge der als Marken dienenden, verschiedenen Helligkeitsschwerpunkte festzuhalten („Reizfolge-Integration") und zu verwerten.
JANDER (1957) hat das Funktionsgefüge dieses komplexen Orientierungsmechanismus
untersucht und in einem kybernetischen Diagramm wiedergegeben, das dem Sachverhalt insofern voll gerecht wird, als jeder schematisch dargestellten Instanz eine experimentell isolierbare, spezielle Leistung entspricht. Es läßt sich zeigen, daß sowohl der tageszeitliche Verrechnungsapparat des Sonnenganges als auch die Lernvorgänge, die das Steuern nach Wegmarken ermöglichen, am „Drehkommando" angreifen. Ein weiterer, hochinteressanter Lernvorgang spielt sich außerdem bei der unerfahrenen jungen Ameise und bei der älteren jeweils nach dem Winterschlaf ab. Die Ameise muß den Sonnengang mindestens drei Stunden lang beobachtet haben, ehe der ihn verrechnende und für das Drehkommando auswertende Mechanismus funktioniert. Dies bedeutet sicher nicht, daß das Insekt etwa imstande wäre, durch Lernen aus dreistündiger Beobachtung den Gang der Sonne zu extrapolieren und aus ihrem jeweiligen Stande die Himmelsrichtung zu entnehmen, sondern nur, daß ein phylogenetisch angepaßter Verrechnungsapparat der „Einstellung" bedarf, um zu funktionieren.
Wohl nirgends tritt die ganz spezielle, phylogenetische Angepaßtheit der hier in Rede
stehenden Lernvorgänge klarer zutage, als in dem Unterschiede, den BRAEMER und SCHWASSMANN (1959) bei Untersuchung der Sonnenorientierung zwischen nordamerikanischen Barschen
(Centrarchidae) und dem mittel- bis südamerikanischen Buntbarsch
(Aequidens portalegrensis) fanden. Die erstgenannten Fische, die allein auf der nördlichen Halbkugel vorkommen, können ausschließlich einen Sonnengang mit Azimutbewegung von links nach rechts „verrechnen". Versuchte man bei ihnen Richtungsdressuren zu erreichen, indem man ihnen eine Südsonne mit Azimutbewegung Von rechts nach links präsentierte, sei es durch Darbietung einer Kunstsonne oder durch Verfrachtung nach Süden, so wiesen diese Fische, auch wenn sie in Dauerlicht aufgezogen waren, erwartungsgemäß eine Richtung, die tageszeitlich mit doppelter Sonnenazimutgeschwindigkeit linksherum vor der Sonne rundumlief. Ganz anders die erwähnten Cichliden. Diese vermögen ebensowohl eine links-rechts laufende Nordsonne, als auch eine andersherum wandernde Südsonne zu korrekter Orientierung zu benutzen. In ihrer Jugend auf Nordsonne eingestellte Tiere verrechneten, auf die südliche Halbkugel versetzt, zunächst doppelt. Es steht dahin, ob sie sich bei längerem Aufenthalt auf richtige Orientierung nach der Südsonne umgestellt hätten.
Zu den einfachen Modifikationsvermögen, die als Eichungs- oder Einstellmechanismen in
hochdifferenzierte phylogenetisch angepaßte Verhaltenssysteme eingebaut sind, gehört schließlich noch die Leistung der sog. Z e i t g e b e r . Alle die inneren „Uhren", die eine unentbehrliche Grundlage der vorerwähnten orientierenden „Verrechnungsmechanismen" wie aller anderen im Rhythmus astronomischer Vorgänge oszillierenden Verhaltensänderungen sind, gehen niemals genau, sondern ebenso wie die mechanischen Uhren des Menschen stets ein wenig vor oder nach, sowie man den Organismus in absolut konstante Umgebung bringt. So regelmäßig ist diese Erscheinung, daß der
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erfahrene Rhythmusforscher, der eine absolut richtig gehende Uhr vorfindet, sofort annimmt, daß der zu untersuchende Rhythmus nicht wirklich „freiläuft", sondern daß die Versuchsanordnung insofern mangelhaft sei, als dem Organismus unentdeckte zeitgebende Reize zugänglich blieben. Die notwendigerweise mittelbar oder unmittelbar durch astronomische Vorgänge verursachten Reize, die den Organismus über das Vor- oder Nachgehen seiner inneren Uhr informieren, b e w i r k e n n i e m a l s e i n e M o d i f i k a t i o n d e r G a n g - G e s c h w i n d i g k e i t d e r U h r , sondern regelmäßig nur ein für den Augenblick kompensierendes Zurück- oder Vorrücken ihres Zeigers. Der Organismus verwertet die empfangene Information also nicht so wie der kundige Uhrmacher, der eine Modifikation an dem die Geschwindigkeit bestimmenden Pendelmechanismus vornimmt, sondern wie der Laie, der seine Uhr vor- oder nachstellt; eben dies ist nach den S. 152 angestellten Erwägungen zu erwarten.
Vor allem bei höheren Säugern ist es für die Ontogenese der höher spezialisierten Instinktbewegungen geradezu typisch, daß sie zuerst an falschem Ort auftreten. Der junge Hund schüttelt die Pantoffeln seines Herren tot oder vollführt die ganze Bewegungsfolge des Beuteverscharrens auf dem Parkett in der Zimmerecke. WALLACE CRAIG (1914) hat in seiner klassischen Schrift über Appetenzverhalten in unübertrefflicher Weise dargestellt, wie jede zielbildende Endhandlung
(consummatory act) ein Dressurmittel darstellt, das dem Tier beibringt, zum „Abreagieren" eine ganz bestimmte möglichst adäquate Reizsituation aufzusuchen, bzw. nicht passende zu vermeiden.
Lernvorgänge, die EIBL-EIBESFELDT in seinen Versuchen an Ratten und kleinen
Musteliden zu sehen bekam, entsprachen ausnahmslos diesem Typus. Er zog Ratten so auf, daß sie keine Möglichkeiten hatten, Erfahrungen mit Herumtragen und sonstigem Behandeln fester Gegenstände zu machen; selbst der Schwanz war ihnen amputiert worden, nachdem man gesehen hatte, wie sie ihn als Ersatzobjekt für Nestbauhandlungen benutzten. Als diese Tiere Nestmaterial erhielten, zeigten sie eine ganze Anzahl längerer, wohlgeordneter Bewegungsfolgen des normalen Nestbaus. Außer den völlig angeborenen Bewegungsfolgen des Hinauslaufens, Erfassens von Material, Zurücklaufens und Niederlegens waren ebenso die des Aufhäufens eines ringförmigen Nestwalles, des „Tapezierens", d. h. Flachklopfens der inneren Nestwand, sowie die des Zerspleißens von grobem Nestmaterial völlig ungestört. Doch erwiesen sich folgende Lernvorgänge als notwendig, um diese unzweifelhaft phylogenetisch angepaßten Teilvorgänge des Nestbaus zu einer funktionellen Ganzheit zu verbinden: Zunächst mußte, woferne der strukturarme Käfig keine Stelle bot, die durch Deckung oder andere angeborenermaßen beantwortete Reize den Nestbau begünstigte, der O r t der Nestmitte durch Selbstdressur festgelegt werden. Hatte sich ein Versuchstier trotz der völligen Leere des Käfigraums einen bevorzugten Schlafplatz angewöhnt oder wurde durch Anbringung eines kleinen Blechschirms eine Deckung geboten, so trugen die Versuchstiere sofort richtig ein. Dagegen häuften und tapezierten sie zunächst oft sinnlos, d. h. sie ließen die betreffende Bewegung in photographisch genau gleicher Koordination wie normale Tiere in der leeren Luft ablaufen, lange ehe das herbeigeschleppte Material zu jener Mindesthöhe angewachsen war, bei der die Bewegung es berührt hätte. Offensichtlich ist es die andressierende Wirkung der zielbildenden Endsituation und der in ihr ablaufenden Bewegung
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mit all den unter adäquaten Bedingungen eintretenden extero- und propriozeptorischen Rückmeldungen, kurz die
"consummatory situation" W. CRAIGS, die die Tiere die richtige Reihenfolge lehrt, in der die einzelnen, phylogenetisch angepaßten Bewegungsweisen ausgeführt werden müssen, um ihre arterhaltende Leistung zu vollbringen.
Die „Information" darüber, welche Reizsituation die biologisch richtige ist, steckt also
nicht nur im AAM, sondern auch in der Bewegungsweise selbst, die zum großen Teil die Reafferenzen erzeugt, die zur andressierenden Wirkung gehören. Es scheint mir grundsätzlich unmöglich zu sein, die Lernleistung einer Tierart, im besonderen ihre Fähigkeit zur Ausbildung bedingter Reaktionen zu analysieren, ohne zunächst ein Inventar der an- und abdressierenden Reizsituationen, m. a. W. der phylogenetisch angepaßten Aktions- und Reaktionsnormen aufzustellen.
Die eben besprochene Lernleistung ist von den in den vorhergehenden Abschnitten
behandelten in einem Punkte verschieden: Sie ist von einem G e f ä l l e stärker und weniger stark wirkender Reizsituationen abhängig. Die Zweckpsychologen, vor allem E. C. TOLMAN, haben immer schon betont, daß Lernen von diesem Typus nur im Rahmen zweckgerichteten Verhaltens, in unserer Terminologie also in dem des A p p e t e n z v e r h a l t e n s auftritt, wobei es gleichgültig ist, ob das Tier nach der eine zielbildende Endhandlung auslösenden oder den Ruhezustand ermöglichenden Reizsituation strebt. In beiden Fällen entnimmt das Individuum die Information, die zur adaptiven Modifikation seines Verhaltens benötigt wird, aus einem Gradienten: Es muß Erfahrung von mindestens zwei Reizsituationen haben, von denen die eine näher, die andere weniger nahe an die vom Appetenzverhalten angestrebte optimale herankommt. Die Information darüber jedoch, wie diese optimale Reizsituation beschaffen sein muß, ist selbstverständlich phylogenetisch erworben. Der Mechanismus, der das Lernen in die arterhaltend richtigen Bahnen lenkt, steckt in der reiz-selektiven Afferenz des „unbedingten Reflexes", der, wie wir seit I. P. PAWLOW wissen, die Voraussetzung für das Entstehen einer bedingten Reaktion ist. Wo immer man Versuch und Irrtum bzw. eine damit einhergehende fortschreitend adaptive Modifikation von Verhaltensweisen sieht, ist die Annahme des Lernens vom PAWLOWschen Typus wahrscheinlich. Bekanntlich können sich bedingte Reaktionen zweiter und dritter Ordnung, oder, in der Ausdrucksweise der Zweckpsychologen, fast beliebig gliederreiche Ketten von „Zwischenzielen" ausbilden. Auf diese Weise können Lernvorgänge von demselben Typus, von dem wir im obigen Abschnitt ein besonders leicht durchschaubares Beispiel kennengelernt haben, auch sehr viel andere und komplexere Arterhaltungsleistungen vollbringen.
Vielleicht erwerben die meisten höheren Tiere ihre Wegdressuren in Form derartiger Reihen von bedingten Reaktionen, also durch einen Vorgang, der dem S. 159 skizzierten Wegelernen der Ameisen wenig verwandt ist. Beobachtet man z. B., wie eine Maus das Durchlaufen eines Hochlabyrinths (O. KOEHLER u. DINGER 1952) erlernt, so wird einem der Unterschied zwischen einer freien, den Anforderungen des Augenblicks voraussetzungslos gegenüberstehenden Orientierungsreaktion und dem erlernten Abhandeln einer festgefahrenen Folge von Bewegungen eindrucksvoll vor Augen geführt. Rechts und links schnurrhaartastend, immer wieder ein Stück rückwärts gehend, arbeitet sich das Tier im unbekannten Gelände buchstäblich Schritt für Schritt vorwärts. Schon bei der dritten oder vierten Wiederholung durchläuft es wohl ganz plötzlich
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ein kleines Wegstück schneller, stockt aber sofort und wird wieder langsam; mit öfterer Wiederholung erscheinen auch an anderen — immer an denselben — Stellen des Weges Stücke raschen Laufes, werden zahlreicher und länger und fließen an den Berührungsstellen zusammen; und wenn schließlich alle diese „Schweißnähte" des raschen Laufes ausgefeilt sind, durcheilt die Maus in einem einzigen glatten Lauf den ganzen Weg. Manchmal erhält sich eine bestimmte Stelle des Stockens noch durch viele Wiederholungen, genau wie bei Kindern, die ein Gedicht auswendig lernen.
Beim Entstehen einer Wegdressur unter natürlichen Umständen sind das langsame,
orientierende und offensichtlich dem Sammeln von Informationen dienende Fortschreiten und das schnelle, bereits „gekonnte" Laufen auf die beiden verschiedenen Richtungen verteilt, in denen der zu erlernende Weg durchmessen wird. Alle Tiere, die Wege auswendig lernen, verfahren hierin völlig gleich, ob es nun gewisse Fische (Blenniiden, Pomacanthiden), Eidechsen, Insektenfresser oder Nager sind. Das Tier verschwindet, in eine ihm fremde Umgebung gesetzt, sofort ängstlich im nächsten Unterschlupf. Erst wenn es sich beruhigt hat, beginnt es in ganz bestimmter Weise zu erkunden. Es geht zunächst langsam mit allen zur Verfügung stehenden Sinnen die Umgebung untersuchend, nur wenig weit, oft weniger als die eigene Körperlänge, aus der Deckung heraus und ist im nächsten Augenblick blitzrasch wieder in ihr verschwunden. Allmählich durchmißt es immer längere Strecken; der Rückweg in die Deckung, die im Laufe des Bekanntwerdens mit der Umgebung später meist mit einer besseren vertauscht wird, ist immer ein einziger, glatter Ablauf, und die für das Labyrinthlernen so kennzeichnenden „Internodialläufe" sieht man nie.
Den Vorgang, den KÜHN 1919 als Mnemotaxis beschrieben hat, später aber wohl mehr als
eine theoretische Möglichkeit denn als einen wirklich vorkommenden physiologischen Mechanismus betrachtete, findet man in einzelnen Spezialfällen des Weglernens tatsächlich verwirklicht. Bei einer Wasserspitzmaus z. B. liegt tatsächlich jede Wendung stets genau an derselben Stelle des Weges, und sehr wahrscheinlich trifft sogar jeder Tritt jedes Fußes stets genau auf denselben Fleck. Ändert man an dem im buchstäblichen Sinne „auswendig" gekonnten Pfad die kleinste Kleinigkeit, so wird das Tier dadurch völlig aus dem Konzept gebracht (K. LORENZ, 1943), wie dies im Sinne der „mnemischen Homophonie" im Sinne von KÜHN auch zu fordern ist. Man kann also wirklich die ganze Wegfindung solcher Tiere als eine Reihe von Lokomotionsbewegungen und Wendungen auffassen, die als bedingte Reaktionen auf eine korrelierte Reihe von Reizen erfolgen, die von den als Wegmarken fungierenden Umweltdingen gesetzt werden.
Es ist indessen ein Spezialfall, daß die Beherrschung eines Weges in der eben
geschilderten Weise von der Übereinstimmung zwischen einer starr eingefahrenen Bewegungsgestalt und einer festgelegten Reihenfolge von Umweltreizen abhängig ist. Bei den meisten, nach erlernten Wegmarken steuernden Wesen hängt die Orientierung nicht davon ab, daß das Tier wie ein Schienenfahrzeug wirklich genau auf einer bestimmten Linie entlangfährt, wie die Wasserspitzmaus dies tatsächlich meistens tut und wie es nach der Theorie der Mnemotaxis im strengen Sinne auch zu fordern wäre. Die meisten Tiere, die die erlernten Wegmarken überhaupt wahrnehmen, sind völlig über ihre Position im Raume orientiert. Da sie also aus allen überhaupt möglichen Kombinationen von Winkeln, die von den Richtungen der verschiedenen Wegmarken eingeschlossen werden, die eigene Position entnehmen können, muß die Gesamtheit der Informationen, die das Tier über die Struktur der bekannten
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Umgebung erworben hat, einer im ZNS vorhandenen räumlichen Repräsentation gleichkommen, sowohl der orientierenden Wegmarke als der Eigenposition und -bewegung des Tieres. Rein funktionell kommt diese Art des Orientiertseins, für die TINBERGEN den Terminus Pharotaxis vorgeschlagen hat, der räumlichen „Einsicht" gleich. Zwischen räumlicher Einsicht und der Beherrschung des Raumes durch Auswendiglernen aller in ihm möglichen Wege bestehen sicherlich Übergänge und Zwischenformen, denn auch bei ersterer verläuft Zeit zwischen den Rezeptionsvorgängen, und die zuerst empfangenen Reize müssen in irgendeiner Form aufbewahrt werden, bis die zentrale Repräsentation der betreffenden räumlichen Gegebenheiten vollständig ist.
Wie OTTO STORCH 1949 meines Wissens als erster hervorgehoben hat, spielt die „Erwerbs-Rezeptorik" im Tierreich eine weit größere Rolle und tritt auf weit geringerer Organisationshöhe auf als die „Erwerbs-Motorik". Alle bisher besprochenen Funktionen einer adaptiven Modifikation des Verhaltens beruhen auf erworbenen Änderungen der Reaktionen im rezeptorischen Sektor des Nervensystems, vielleicht mit Ausnahme der S. 161 ff. geschilderten Entstehung einer mnemotaktisch gesteuerten Bewegungsfolge. Die einzelnen Laufbewegungen und Wendungen werden in solchem Fall ja zu einer in sich geschlossenen, auch transponierbaren Weg-„Gestalt" (O. KOEHLER 1952, 1958) verschmolzen, die, als Ganzes betrachtet, tatsächlich eine individuelle Erwerbung darstellt, wenn auch in jedem ihrer Einzelglieder und in deren Organisierbarkeit phylogenetisch angepaßte, arteigene Koordinationen darinstecken. Es ist eine Frage willkürlich gewählter Definitionen, ob man diesen Vorgang motorisches Lernen nennen will.
Bis zur Stufe der Vögel und niederen Säuger ist fast alles, was man als motorisches
Lernen bezeichnen könnte, von dieser Art und spielt eine große Rolle. Erstaunlicherweise beruht auch bei vielen Vögeln das Beherrschen von Flugstrecken in stark strukturiertem Raum auf demselben Vorgang eines Zusammenschweißens von einzelnen, in ihrer Koordination angeborenen Bewegungsweisen zu einem „gekonnten" Ganzen. Höhlenbrütende Enten z. B. brauchen wochenlang, um auf diese Weise das schwierige Flugproblem der Landung am Eingang des oft schwer zu erreichenden Nistlochs zu meistern, und im Aktionssystem der betreffenden Enten ist der Dauer dieses Lernvorganges dadurch Rechnung getragen, daß die Nestsuche entsprechend lange vor dem Eierlegen beginnt.
Ob es je vorkommt, daß eine phylogenetisch angepaßte Erbkoordination durch „Übung"
verbessert, gewissermaßen „ausgeschliffen" wird, ist mir zweifelhaft und auch ebenso schwer zu beweisen wie zu widerlegen. Gewährt man dem heranwachsenden Tier a l l e Möglichkeiten zu üben, so schließt die allmähliche Verbesserung der Bewegung nicht aus, daß es sich um einen Reifungsvorgang handelt; behindert man diese Möglichkeit und die Bewegung entwickelt sich daraufhin langsamer oder unvollkommener, so kann Inaktivitätsatrophie als Ursache nie ausgeschlossen werden. Eine echte „Erwerbsmotorik" im Sinne einer wirklich neuen, erlernten Bewegungsweise, die nicht einmal erkennbare Teilstücke erbkoordinierter Bewegungen enthält, spielt, soviel ich weiß, nur bei den allerhöchsten Säugetieren eine wesentliche Rolle. Daß etwas im allgemeinen nicht vorkommt, wird dem Beobachter oft erst durch den Ausnahmefall zum Bewußtsein gebracht, der ihm zeigt, wie das betreffende Phänomen, wenn es oft vorkäme, aussehen würde. In dieser Hinsicht ist ein Befund, den mir VERPLANCK vor
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einigen Jahren mündlich mitgeteilt, leider aber meines Wissens noch nirgends veröffentlicht hat, von größtem Interesse. Er versuchte bei Stockenten, eine häufige erbkoordinierte Bewegungsweise, nämlich das gewöhnliche Kopfschütteln, als bedingte Reaktion an einen andressierten Reiz zu koppeln, indem er jeden Vogel, der eben kopfgeschüttelt hatte, sofort durch Zuwerfen eines Brotstückchens belohnte. Die Enten lernten nicht, das Kopfschütteln willkürlich zu produzieren, aber sowie sie den Experimentator an der gewohnten Stelle erscheinen sahen, machten sie merkwürdige, krampfartig aussehende Bewegungen mit Kopf und Hals, offenbar die nächste Annäherung an das Kopfschütteln, die ihnen als erlernte „Willkürbewegung" erreichbar war. Vom Standpunkt ihrer Ausstattung mit willkürlichen Bewegungen aus betrachtet war die den Enten aufgezwungene Leistung dem vergleichbar, was eine Yoghi-Ubung von einem Menschen verlangt. Wirklich „neue" Bewegungskoordinationen, „Erwerbsmotorik" im eigentlichen Sinne des von STORCH geprägten Ausdrucks, können offenbar nur von verhältnismäßig wenigen, hochorganisierten Tieren erlernt werden, und selbst bei diesen entsteht der Eindruck des Neuen nur dadurch, daß die zu einer Neukombination verschmolzenen, erbkoordinierten Elementarbewegungen eben sehr klein sind. Diese Elemente, die immer noch sehr hoch über dem Integrationsniveau der fibrillären Zuckung (Ebene 2 nach P. WEISS 1941) liegen, sind eben das, was man als W i l l k ü r b e w e g u n g zu bezeichnen gewohnt ist. Diese nicht assoziierten, ja vielleicht sogar im phylogenetischen Sinne tatsächlich d i s -soziierten Bewegungselemente, die dem Pyramidensystem frei zu Gebote stehen, sind das Rohmaterial, aus dem das motorische Lernen gekonnte Bewegungen formt. Der Prozeß, durch den dies erreicht wird, ist nicht grundsätzlich von demjenigen verschieden, der S. 161 ff. für das Erwerben von Wegdressuren beschrieben wurde, nur daß hier das „Auffädeln" angeborener Bewegungsweisen zu einer gekonnten Koordination nicht nur eine lineare Kette aufeinanderfolgender Bewegungen erzeugt, gewissermaßen eine einstimmige Impulsmelodie, sondern einen durch Querverbindungen in Form von simultanen Koordinationen bereicherten Ablauf, einem polyphonen Musikstück vergleichbar. Wie schon angedeutet, verdanken die Elemente, deren freie Verfügbarkeit Voraussetzung des eben geschilderten Vorganges ist, ihre Unabhängigkeit einem Vorgang des phylogenetischen Z e r f a l l e s primär sehr komplexer, phylogenetisch angepaßter Bewegungskoordinationen. Zumindest gilt dies ganz sicher für die willkürlichsten Willkürbewegungen die wir kennen, nämlich die der menschlichen Hand. Ein vergleichendes Studium der Erbkoordinationen, die bei kletternden Tieren und insbesondere bei Primaten dem schlichten Ziel der L o k o m o t i o n dienen, gibt eine zwanglose Erklärung dafür, daß Tiere, die im Geäste klettern und insbesondere solche, die dies mit Hilfe von Greifhänden tun, eines Maximums frei verfügbarer Willkürbewegungen bedürfen: Buchstäblich jeder Schritt und jeder Griff der Zangenhand muß bis in jede kleinste Einzelheit und in allen drei Raumdimensionen steuerbar sein, und es ist ohne weiteres klar, warum größere Komplexe erbkoordinierter Bewegungen, wie etwa die des Galopps der Flachlandtiere, unter diesen Umständen unbrauchbar sind. Der „Mangel an Rhythmus", der für die Lokomotion der Anthropoiden und mehr noch für ihr exploratives Verhalten so kennzeichnend ist, entstand zweifellos als Folge dieser besonderen Anforderungen an ihre Motorik und war seinerseits eine der Voraussetzungen für die Ausbildung der menschlichen Willkürbewegung und alles dessen, was diese im Gefolge hatte.
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Solange sie nicht durch motorisches Lernen zu neuen Komplexen successiver und simultaner Koordination verschmolzen sind, sehen Willkürbewegungen stets in hohem Maße u n g e s c h i c k t aus, wie etwa das linkshändige Zeichnen eines Rechtshänders oder jede andere erstmalig ausgeführte Manipulation. Sie sind in dieser Hinsicht genau das Gegenteil des ausgefeilten Endproduktes, das durch motorisches Lernen aus ihnen entsteht und dessen Arterhaltungswert jenen Selektionsdruck ausübte, der beim Menschen zur extremen Ausbildung der Willkürbewegung führte.
Wahrscheinlich besitzen alle höheren Lebewesen, die reichlich mit Willkürbewegungen
ausgestattet sind, einen b e s o n d e r e n e i n g e b a u t e n M e c h a n i s m u s , der a n d r e s s i e r e n d auf solche Bewegungskombinationen wirkt, die ein Maximum an Wirkung mit einem Minimum an Aufwand erreichen. Auf die Existenz eines solchen D r e s s u r m e c h a n i s m u s kann aus der weiten Verbreitung seiner Wirkungen bei gewissen, sehr besonders „konstruierten" Lebewesen geschlossen werden; über seine physiologische Natur sind nur Spekulationen möglich. Es wäre sicher v o r s t e l l b a r , daß proprio- und exterozeptorische Meldungen über erreichten Bewegungserfolg mit solchen über geleistete Muskelarbeit in Beziehung gesetzt und Bewegungen mit bestem Wirkungsgrad an-, alle mit schlechterem hingegen abdressiert werden. Die Selbstbeobachtung, eine durchaus legitime Wissensquelle, scheint eine solche Hypothese durchaus zu bejahen, wenn sie auch außerdem noch auszusagen scheint, daß der Gestaltwahrnehmung nächstverwandte Vorgänge am Werke sind, die einfach-prägnante, „elegante" Lösungen der dem Organismus gestellten motorischen Aufgaben bevorzugen. Beides kann sehr gut dasselbe sein, hat doch E. VON HOLST unzweifelhaft gezeigt, daß schon relative Koordination und Magneteffekt, auf niedrigem Niveau zentralnervöser Vorgänge sich selbst überlassen, einfache Koordinationsweisen erzeugen können, die bestmöglichen Wirkungsgrad mit unzweifelhaften Gestalteigenschaften verbinden. Auch läßt sich zeigen, daß selbst die speziellsten menschlichen Willkürbewegungen dem Einfluß jener elementaren Koordinationsmechanismen unterliegen, was jedem Klavierschüler schmerzlich beigebracht wird, wenn er erstmalig versucht, mit einer Hand Achteltriolen und mit der anderen Achtelzweitakt zu spielen. Während aber die Flossenbewegungen eines Lippfisches
(Labrus) ausschließlich durch relative Koordination und Magneteffekt in Beziehung gesetzt werden, kann diesen Faktoren bei der Entstehung gekonnter Bewegungen doch nur eine Hilfsrolle zukommen, da ja die primäre Entscheidung darüber, welche Bewegungselemente mit welchen anderen gekoppelt werden müssen, von höchsten Instanzen des Zentralnervensystems autoritär getroffen wird.
und nicht einfach die leichtere Erreichbarkeit des biologischen Enderfolges sei, der allen gekonnten Bewegungen seinen besonderen Stempel aufdrückt, vermag eine Reihe von Erscheinungen zu erklären, die anders nicht einzuordnen sind.
Sie gibt eine zwanglose Erklärung für jene subjektiven Erscheinungen, auf deren Existenz
und hohe Bedeutung im menschlichen Leben KARL BÜHLER als erster hingewiesen und die er als F u n k t i o n s l u s t bezeichnet hat. Damit ist keineswegs nur die jede Instinktbewegung begleitende und andressierend wirksame subjektive Erscheinung gemeint, sondern ganz besonders jene Freude an erlernten, gekonnten Funktionen, die mit der Größe der gemeisterten Schwierigkeiten wächst. Wir wissen durch Selbstbeobachtung, daß wir, von verschwindend wenigen „Professionals" abgesehen, gerade um eben dieser Freude willen eislaufen, skifahren oder tanzen, und auch, wenn wir ganz
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„objektiv" verfahren, können wir feststellen, daß diese Betätigungen, ganz für sich genommen, eine starke andressierende Wirkung auf ein speziell nach ihnen gerichtetes Appetenzverhalten unzähliger Menschen ausüben. Genau dasselbe hat 30 Jahre nach W. KÖHLER (1921) auch HARLOW (1950) an Affen gefunden, bei denen die Freude an gekonnten, nur um ihrer selbst willen ausgeführten Manipulationen sich als starkes andressierendes Mittel erwies. Wie so oft, erlauben hier Nebenprodukte oder Fehlleistungen eines physiologischen Mechanismus, die seine eigentlichen arterhaltenden Leistungen gar nicht erfüllen, bessere Einsicht in seinen physiologischen Aufbau und seine Funktion als jene Fälle, in denen er den Arterhaltungswert, dessen Selektionsdruck ihn entstehen ließ, voll erfüllt.
In ganz ähnlicher Weise wie menschliche Schläue supranormale Schlüsselreize für so
viele andere auslösende bzw. andressierende Mechanismen gefunden hat (S. 145), so hat sie auch für den hier in Rede stehenden Dressurmechanismus in raffinierter Weise außerordentlich „lohnende" Reizsituationen zu erfinden vermocht. Die enge Analogie, die in dieser Hinsicht viele „Sports", wie Skilauf oder Tennis, sowie manche Künste, wie Kunsteislauf oder Tanz, mit den S. 145 diskutierten „Lastern" verbindet, wird wegen der gegenteiligen Wirkung, die beiderlei Erscheinungen auf die menschliche Gesundheit haben, leicht übersehen. Ein sehr bekannter Künstler und Wissenschaftler meines Freundeskreises ist dem Segelfliegen allerdings in einer Weise verfallen, die von seinen Mitarbeitern als gefährliches Laster bezeichnet wird.
Proprio- und exterozeptorische Wahrnehmungen, welche die Vollendetheit der eigenen
Bewegung vermelden und belohnen, sind weder voneinander klar zu unterscheiden, noch auch von dem rein exterozeptorischen Vergnügen, das wir beim Betrachten von Bewegungsweisen empfinden, die bis zur Vollkommenheit „gekonnt" sind. "The entrancing beauty of everything done superlatively well" — die berückende Schönheit von allem, was über die Maßen gut getan wird — wie BEEBE so schön gesagt hat — hängt nicht nur den Bewegungen an, die unmittelbar am Tun beteiligt sind, sondern oft auch den Dingen, die es hervorbringt. Es wäre leicht, sich hier in philosophische Spekulation zu verlieren: Der Selektionsdruck, den die Ökonomie der aus willkürlichen Elementen zusammenzusetzenden gekonnten Bewegung ausübt, führt zur Differenzierung eines andressierenden Mechanismus, der koordinative Vollkommenheit der eigenen Erwerbsmotorik belohnt. Wie die meisten rezeptorischen Organisationen seiner Art, ist dieser Mechanismus supernormalen Reizsituationen zugänglich, die noch stärker „belohnend" wirken, als diejenigen, auf die er von der phylogenetischen Entwicklung gemünzt ist. So führt er den erfindungsreichen
homo faber zu stärker und stärker befriedigenden Reizsituationen, ganz wie dies bei der Entstehung von Lastern zu geschehen pflegt, aber die Folge ist hier nicht Verfall und Gefahr für das Überleben der Art, sondern eine nach dem Unendlichen strebende Entwicklung unserer Empfänglichkeit für das Schöne. Als strenge Vertreter der psycho-physiologischen Parallelismuslehre müssen wir ernstlich die Möglichkeit erwägen, daß unser ästhetisches Wertempfinden nichts anderes als die Erlebnisseite der eben diskutierten Funktionen sei. Ebenso aber müssen wir uns klar sein, daß, auch wenn diese Erklärung richtig sein sollte, sie der Wirklichkeit und dem Werte des Schönen keinen Abbruch täte.
Immerhin ist die obige Erklärung durchaus nicht die einzig mögliche. Wir empfinden
Schönheit auch bei Betrachtung von Phänomenen, die ihre Harmonie und Vollkommenheit keineswegs dem hier in Rede stehenden andressierenden Mechanismus, sondern ausschließlich phylogenetischen Vorgängen verdanken. Das Schwimmen eines Haies oder der Galopp einer Antilope kann sich
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an Schönheit mit der künstlerisch höchstentwickelten gekonnten Bewegung messen. Dennoch aber glaube und behaupte ich, eine ganz besondere Art von Schönheit in den übermütigen Flugspielen gesehen zu haben, die ein Kolkrabe im Aufwind vollführt, in den unglaublichen Turnkunststücken eines munteren Gibbons und in den stromlinien-geformten Bewegungsspielen, die ein Delphin mit der Bugwelle eines Dampfers treibt, n o c h e h e i c h w u ß t e , d a ß g e r a d e d i e s e B e w e g u n g s w e i s e n e i n e n b e s o n d e r s h o h e n A n t e i l i n d i v i d u e l l e r l e r n t e r , g e k o n n t e r K o o r d i n a t i o n e n e n t h a l t e n .
Der beste Grund, die Funktion eines besonderen Mechanismus anzunehmen, der in aus
Willkürbewegungen zusammengesetzten Koordinationen größte „Vollkommenheit" im Sinne des besten Wirkungsgrades belohnt und andressiert, liegt im offensichtlichen Fehlen anderer Motivationen gerade bei den intensivsten und besonders typischen Betätigungen gekonnter Bewegung, nämlich bei den Bewegungsspielen höherer Tiere, sowie in der deutlichen Korrelation zwischen Häufigkeit und Differenzierung solcher Spiele einerseits und der Lernfähigkeit der betreffenden Tierart andererseits.
Schließlich vermag die in Rede stehende Annahme eine wenigstens spekulative Erklärung
für einen Kreis sonst völlig rätselhafter Beobachtungen zu geben. Wenn ein Delphin,
Lagenorhynchus, es ohne jedes Zutun menschlicher Dressur lernt, im raschen Schwimmen einen Aluminiumteller auf der Schnauzenspitze zu balancieren, aufgepumpte Gummireifen unter den Bauch schwimmender Seeschildkröten zu legen und mit Steinen gezielt nach unbeliebten Personen zu werfen, so war bisher die Herkunft dieser außerordentlich geschickten und zweifellos nicht phylogenetischer Anpassung entstammenden Bewegungen ein ebenso großes Rätsel wie die des riesigen, windungsreichen Großhirns, das zweifellos die Voraussetzung für derartige Verhaltensweisen bildet. Mein Erklärungsversuch geht dahin, daß die Vorfahren der wasserlebenden Säuger zur Zeit ihrer Rückkehr ins Wasser bereits eine ziemlich reichliche Ausstattung mit Willkürbewegungen und entsprechendem Lernvermögen besaßen und deshalb gewissen Anforderungen des neuen Lebensraumes dank diesen fast beliebig modifizierbaren Funktionen gerecht werden konnten. So wirkte sich der Selektionsdruck, der die Entstehung neuer, dem Wasserleben angepaßter Bewegungen begünstigte, fast ebensosehr in Richtung einer höheren Ausbildung von Willkürbewegungen wie in derjenigen einer Neu-Differenzierung phylogenetisch angepaßter Erbkoordinationen aus. Zu dieser Annahme stimmt, daß Ottern, Seelöwen und Wale in so erstaunlich differenzierter Weise spielen, die erstgenannten auffällig viel mehr als andere Musteliden. Es mag zunächst paradox erscheinen, daß die Wale ihr gewaltiges und leistungsfähiges Gehirn nur unter dem Selektionsdruck entwickelt haben sollen, den die Anforderungen des Wasserlebens auf die Ausbildung neuer Lokomotionsweisen ausübten, aber das Prinzip, das RUDYARD KIPLING in den witzigen Worten ausgesprochen hat: „Wenn ich schon Rasiermesser zum Holzhacken nehmen muß, ziehe ich den feinsten Stahl vor!" findet sich in der Evolution der Organismen nicht allzu selten verwirklicht. Auch sind die Nebenprodukte der Willkürbewegung und der ihre Vervollkommnung bewirkenden Mechanismen, die wir bei den Walen beobachten und die uns durch ihre Ähnlichkeit zu entsprechenden Erscheinungen bei uns selbst verblüffen, ganz genau das, was man bei der angenommenen Entwicklungsweise erwarten müßte.
VI. Kritik der „naiven" Einstellung älterer Ethologen
Unrichtig ist zweifellos die Gegenüberstellung von „angeboren" und „erlernt" als zweier konträrer Begriffe, ganz abgesehen von der eingangs erwähnten
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Ungenauigkeit des ersten Terminus in genetischer Hinsicht. Wie schon in der Kritik der behavioristischen Argumente ausführlich erörtert, ist es zweifellos grundsätzlich möglich, daß eine einzige Bewegungsfolge beides zugleich ist, dann nämlich, wenn die ihrer Anpassung zugrundeliegende Information ausschließlich in der Morphologie der bewegten Organe enthalten ist und vom Individuum erst durch Versuch und Irrtum aus dieser entnommen wird. Die „chiffrierte Information" des Genoms würde dann gewissermaßen doppelt, erst durch die Vorgänge der Morphogenese, und dann noch einmal durch Lernen „dechiffriert". Die Komplikation eines solchen Vorganges schließt sein reales Vorkommen, vor allem beim Menschen (PRECHTL 1958), nicht aus. Der in Rede stehende Denkfehler hindert jedoch nicht, daß — wie im vorigen Abschnitt erörtert — die auf ziemlich naiven Begriffsbildungen aufgebauten Vorstellungen von der „Instinkt-Dressur-Verschränkung", wie HEINROTH sie hegte und ich (1932) ausführlich darstellte, für die allermeisten Fälle zutreffen, in denen Ontogenie des Verhaltens genau untersucht wurde.
Aus der disjunktiven Gegenüberstellung der Begriffe „angeboren" und „erlernt" entsprang
eine Denkweise, der man dieselben Vorwürfe nicht ersparen kann, die weiter oben (S. 142 ff.) gegen die Behavioristen erhoben wurden. Erstens kann man das Vorgehen der alten Ethologen insofern als atomistisch bezeichnen, als sie sich ausschließlich für das angeborene Verhalten interessierten — vielleicht ein wenig entschuldigt durch die Antithese zu den Behavioristen, die das Umgekehrte taten — und erlerntes und einsichtiges Verhalten unbesehen als Sammeltopf für unanalysierte Restbestände betrachteten.
Zweitens aber kann man den Vorwurf, der in Kritik von 1b gegen die Behavioristen
erhoben wurde, auch den alten Ethologen nicht ersparen: Sie haben kaum darüber nachgedacht, welche phylogenetisch entstandenen Mechanismen es seien, die das Lernen stets in Bahnen von Verhaltensweisen mit positivem Arterhaltungswert lenken; sie nahmen diese Tatsache ebenso wie die Behavioristen als selbstverständlich hin. Höchstens bei WALLACE CRAIG klingt diese Problematik an, und selbst bei ihm mehr zwischen den Zeilen in den Verhaltens-Schilderungen als in klarer Formulierung. Ich selbst habe mir jedenfalls die „Verschränkung" zwischen phyletischer Anpassung und Lernen viel zu mosaikhaft und viel zu wenig als Wechselwirkung vorgestellt, ein ausgesprochen atomistischer Denkfehler. Dieser hatte auch falsche Vorstellungen von der physiologischen Natur der zielbildenden Endhandlung zur Folge: Ich glaubte lange Zeit, daß das Ende der Handlungskette dadurch erreicht würde, daß sich in plötzlichem, hochintensivem Hervorbrechen alle aktivitäts-spezifische motorische Erregung entlade und total erschöpfe. Wie F. BEACH (1942) am Kopulationsverhalten des Schimpansen nachgewiesen hat, ist diese Vorstellung falsch: Es sind Reafferenzen, die sicher in diesem und wahrscheinlich auch in anderen Fällen von kritisch aufhörenden Endhandlungen gewissermaßen „Erfolg melden" und das Appetenzverhalten abschalten.
Diese Reafferenzen extero- wie propriozeptorischer Herkunft sind erstens das positive
Dressurmittel
(reinforcement), das, an höhere Instanzen weitergeleitet, die vorhergehenden zum Erfolg der Endhandlung führenden Verhaltensweisen andressiert, zweitens aber enthalten sie auch die wesentlichen, phylogenetisch gewonnenen Informationen, die den Arterhaltungswert der Lernleistung sichern. Diese Informationen liegen nicht nur in der Selektivität auslösender Mechanismen, sondern, wie S. 161 erörtert, auch in der Erbkoordination der Bewegung selbst. Gerade hierauf gründet sich die große Anpassungsfähigkeit des erlernten Verhaltens und damit seine Überlegenheit über rein phylogenetisch angepaßte Verhaltensketten. Wenn etwa EIBLS erfahrungslose
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Ratte (S. 160) zunächst die „Tapezierbewegung" in leerer Luft vollführt, bald aber lernt, zuvor eine Reihe anderer Bewegungsformen einzusetzen, die erst die Voraussetzung für eine erfolgreiche Funktion der erstgenannten schaffen, so ist es sicherlich in erster Linie die beim „Tapezieren" empfangene Reafferenz, die als andressierendes Mittel wirkt. Dabei bestimmt sie einen zu erreichenden Endzustand der Nestwand und gibt den vorangehenden, dieses „Ziel" herbeiführenden Verhaltensweisen breiten Spielraum, ganz wie dies für alles „zweckgerichtete" Verhalten im Sinne E. C. TOLMANS kennzeichnend ist. Die zielbildende Endhandlung ist phylogenetisch in höchst subtiler Weise zum Dressurmittel differenziert, ja, eine ihrer wichtigsten Funktionen ist die eines solchen. Daß auf diese Weise das Lernen seinerseits zweifellos einen wesentlichen Einfluß auf die stammesgeschichtliche Entwicklung der Instinktbewegungen genommen hat, lag dem Denken der älteren Ethologen, wenigstens dem meinen, durchaus fern.
Dieser Atomismus hat indes wenig Schaden angerichtet, weil in jeder anderen Hinsicht
das willkürlich herausgegliederte Element, eben die Erbkoordination, tatsächlich einer jener „Ganzheits-unabhängigen Bausteine" (LORENZ 1950) des Verhaltens ist, die vom Systemganzen weit weniger beeinflußt werden, als sie es ihrerseits beeinflussen. Auf jeden Fall war die erbkoordinierte Bewegung der archimedische Punkt, auf dem sich alle ethologische Erkenntnis aufgebaut hat. Vor allem aber hat sich mit Sicherheit bestätigt, daß durch Lernen erworbene Informationen in diese Bewegungsweisen n i c h t eingehen, so sehr sie es ihrerseits durch ihre Funktion als positive Dressurmittel das Lernen beeinflussen. Die naive Anwendung des Terminus „angeboren" auf die erbkoordinierte Bewegung hat dem Fortschreiten der Erkenntnis unvergleichlich viel weniger geschadet, als es die in keinerlei Beobachtung oder experimentellem Befund, sondern ausschließlich in behavioristischer Ideologie begründete Behauptung tut, auch sie müsse, wenigstens im Prinzip und wenigstens ein klein wenig, durch Lernen modifizierbar sein, bzw. es tun würde, wenn die modernen Ethologen die Konsequenzen aus ihr zögen, was sie, wie gesagt, zum Glück ihrer Forschung nicht tun (S. 139).
VII Leistung und Leistungsbeschränkung des Experimentes mit Erfahrungsentzug
Alles bisher Gesagte diente dem ersten der beiden S. 139 genannten Ziele, der begrifflichen Klärung der Frage, was moderne Ethologen meinen, wenn sie sagen „was wir früher angeboren und erlernt nannten". Die unbestrittene, aber so oft vernachlässigte Tatsache, daß es nur zwei voneinander scharf getrennte und durch keinerlei Übergänge miteinander verbundene Wege gibt, auf denen die jeder Anpassung des Verhaltens zugrundeliegende Information in das organische System hineingelangen kann (S. 142), wurde teils in Verfolgung dieses ersten Zieles ausführlich diskutiert, teils aber auch, um damit der zweiten der gestellten Aufgaben zu dienen, nämlich der Prüfung der Frage, was und wieviel wir aus Experimenten entnehmen können, in denen dem heranreifenden Organismus die Möglichkeit genommen wird, durch Lernen Information über bestimmte Umweltgegebenheiten zu gewinnen. Das Isolierungsexperiment, wie ich diesen Versuchstyp der Kürze halber nennen will, wäre von sehr geringem Wert, wenn die S. 148 als „präformationistisch" gekennzeichnete Meinung mancher behavioristischer Psychologen zurecht bestünde, daß ein Lernen im Ei oder in utero eine Angepaßtheit an Umweltgegebenheiten erklären könne, denen das Tier erst in seinem späteren Leben begegnet. Selbst die bereits kritisierte (S. 151 ff.) Annahme einer diffusen Mischbarkeit phylogenetischer und individueller Verhaltens-Anpassung ist wenig
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geeignet, das Isolierungsexperiment als besonders aussichtsreich erscheinen zu lassen. Eine Darstellung dessen, was der Isolierungsversuch tatsächlich zu leisten vermag, ist also sicherlich am Platze.
Außerdem wurden Versuche dieser Art in den letzten Jahren wiederholt in so fehlerhafter
Weise angestellt und aus ihren Ergebnissen so völlig falsche Schlüsse gezogen (RIESS 1954, BIRCH 1945) und diese Schlüsse wurden dann noch von sonst höchst kritischen Autoren unverdienter Weise so ernst genommen (LEHRMAN 1953), daß die Besprechung der wenigen und einfachen Regeln, die beim Anstellen von Isolierungsversuchen zu beachten sind, dringend nötig erscheint.
Wie schon S. 150 ff. bei Diskussion der Einstellung moderner Ethologen zum Begriff des Angeborenen ausgeführt, ist das Experiment isolierender Aufzucht nur dann sinnvoll, wenn sicher bekannt ist, daß das zu untersuchende Verhaltensmerkmal e i n e a r t e r h a l t e n d e L e i s t u n g v o l l b r i n g t . Dies steht, aus naheliegenden Gründen (LORENZ 1955) bei allen Verhaltensweisen fest, deren komplexer und differenzierter Aufbau ihr rein zufälliges Zustandekommen ausschließt. Bei ihnen erhebt sich, neben der selbstverständlichen Frage nach der Leistung, deren Selektionsdruck eben diese Differenziertheit bewirkte, auch die Forderung nach Kausalanalyse der Entwicklungsmechanik, durch die das angepaßte Verhalten ontogenetisch zustandekommt. Bei regellosen Vorgängen, die keinen Arterhaltungswert besitzen — und ganz ebenso, wenn man diesen aus seiner Betrachtungsweise fortläßt — entbehren beide Fragen nicht nur des Sinnes, sondern werden auch unlösbar; in diesem Sinne sind die S. 141 zitierten Erwägungen durchaus richtig: An einem unstrukturierten, nicht im Dienste der Arterhaltung differenzierten Merkmal der Organisation von Körper oder Verhalten ist es nicht nur sinnlos, nach dem Anteil zu fragen, den Vererbung und Umgebungseinwirkung an seiner ontogenetischen Entwicklung nehmen, sondern es ist auch unmöglich, diese uninteressante Frage zu entscheiden, ohne die von den vorerwähnten Erwägungen geforderte Vielzahl von Versuchen anzustellen.
Weiß man dagegen, daß das untersuchte Verhaltenselement im Dienste einer bestimmten
arterhaltenden Leistung seine hochdifferenzierte Form gewonnen hat, und kennt man dazu noch diese Leistung, so sind Fragestellung und Strategie analytischen Vorgehens völlig andere. Man kennt dann nämlich die Herkunft der abbildenden Information, die in der Anformung des organischen Systems an eine bestimmte Umweltgegebenheit enthalten ist: Sie kann nur aus dieser Gegebenheit selbst stammen. Die Fragestellung ist damit von der Berücksichtigung einer schier unendlichen Zahl möglicher Faktoren auf die weit geringere der in jener Gegebenheit selbst enthaltenen eingeschränkt. Außerdem aber weiß man, daß die genannte Information nur durch zwei Arten von Vorgängen gewonnen sein kann, entweder durch die phylogenetische „Induktion" (S. 142) oder durch diese u n d individuelles Lernen. Der entwicklungsmechanischen Ursachenforschung ist damit die prinzipiell und auch praktisch l ö s b a r e Aufgabe gestellt, einerseits herauszufinden, welche Verhaltenselemente sich ganz unabhängig von individuellem Lernen in arterhaltend
1 Alle erdenklichen Möglichkeiten, Erfahrungen zu machen, kann man einem Tier natürlich nicht zugleich abschneiden. Wer wissen will, woher ein Vogel seinen Artgesang hat, legt je ein Ei in eine schalldichte Kammer (SAUER 1954, MESSMERS 1956, THIELCKES 1960); um zu erfahren, welche Düfte ein Makrosmat erstmals mit welchen Reaktionen beantwortet, braucht man „duftdichte" Kammern (DIETERLEN 1959), und so fort.
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funktionstüchtiger Weise entfalten, andererseits aber, welche Lern-, besser gesagt Dressur- oder Lehrmechanismen vorhanden sind, die zusätzlich individuell gewonnene Information in anpassende Modifikation des Verhaltens umsetzen. Wenn nun ein Verhaltenselement seine gesamte Angepaßtheit phylogenetisch gewonnener Information verdankt, so ist, wie schon in Kritik der gegenteiligen Anschauung (S. 151) dargelegt, günstigenfalls schon ein einziger Versuch ausreichend, um dies nachzuweisen. Das Vorhandensein von Lehrmechanismen kann natürlich nur durch den Nachweis ihrer spezifischen Funktion und durch genauere Analyse der letzteren erwiesen werden und bedarf somit stets weiterer Untersuchung. Daraus ergibt sich eine weitere Regel.
Die zweite Regel lautet: Der Isolierungsversuch kann uns unmittelbar nur sagen, was n i c h t gelernt zu werden braucht. LEHRMAN (1953) hat diese Regel klar und richtig formuliert, aber nicht befolgt, indem er sich den Schlußfolgerungen von BIRCH und RIESS anschloß, die gröblichst gegen sie verstießen.
Wenn man ein Tier in Gefangenschaft von frühester Jugend an aufzieht, ist es ungeheuer
schwer zu vermeiden, daß gewisse körperliche Schäden entstehen. Diese aber haben unabsehbare Ausfälle und Störungen der phylogenetisch angepaßten Aktions- und Reaktionsnormen zur Folge: 1. Spontan auftretende, erbkoordinierte Bewegungen verlieren sehr leicht an Intensität, bzw. erleiden eine Schwellenerhöhung der sie auslösenden Reize. 2. Angeborene Auslösemechanismen verlieren häufig ihre normale Selektivität. 3. Soziale Hemmungen verlieren an Kraft oder verschwinden. Unter den Bedingungen des Isolierungsversuchs, die häufig mit den Anforderungen ideal guter Tierhaltung in Konflikt geraten, müssen naturgemäß derartige Schädigungen mit noch größerer Wahrscheinlichkeit erwartet werden.
Ein Beispiel für den ersten der drei aufgeführten Typen von Ausfällen und die Gefahr
seiner Vernachlässigung bietet meine Anatinenarbeit (1942), in der von mehreren der vergleichend untersuchten Schwimmentenformen behauptet wird, daß ihnen eine bestimmte Bewegungsform fehle. In Wirklichkeit aber wurden bei den in Altenberg unter bescheidenen Bedingungen gehaltenen Tieren nie die Schwellenwerte der aktivitäts-spezifischen Erregung erreicht, die zur Auslösung der betreffenden Bewegung nötig sind, wie W. VON DE WALL inzwischen an weit besser gehaltenen Enten derselben Arten festgestellt hat.
Auch die Vernachlässigung der zweiten Störungsmöglichkeit, des Selektivitätsverlustes
auslösender Mechanismen, hat mich einst zu einem Irrtum verleitet, der als Warnung dienen sollte. Junge Neuntöter,
Lantus collurio L., die ich vor vielen Jahren aufzog, begannen kurz nach dem Flüggewerden mit größeren Bissen im Schnabel eigenartig wischende Bewegungen entlang den Sitzstangen und Gitterstäben ihres Käfigs zu vollführen. Ich vermutete alsbald, daß dies die Anfänge des bekannten, für den Neuntöter kennzeichnenden Aufspießens von Beute sei, und bot den Vögeln entsprechende Dornen, in Gestalt von durch die Sitzstange geschlagenen, mit der Spitze etwa 2 cm vorragenden Nägeln. Die Neuntöter beachteten diese Gebilde zunächst überhaupt nicht; erst wenn sie rein zufällig mit der Wischbewegung an den Dorn gerieten und das Fleischstückchen daran hakte, verstärkte sich die Bewegung gewaltig und die Beute wurde richtig aufgespießt. Nach wenigen Erfolgen dieser Art richteten die Vögel ihre Wischbewegungen gezielt auf die Dornen. Diese Beobachtung blieb jahrelang mein Paradebeispiel für eine „Trieb-Dressur-Verschränkung". Als GUSTAV KRAMER zum Zwecke von Versuchen über
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Zugorientierung erneut Neuntöter aufzog, wiederholte er bei dieser Gelegenheit obigen Versuch, mit gleichen Ergebnissen. Als er aber seine Aufzucht-Technik durch Seidenraupenfütterung verbessert hatte, orientierten die so behandelten jungen Neuntöter ihre Spießbewegung sofort, ohne vorherigen Versuch und Irrtum auf Dornen, ja, sie behielten diese Orientierung sogar dann bei, als er ihnen biegsame Gummiattrappen bot, an denen die zielbildende Endhandlung nicht erfolgen konnte (G. KRAMER nach U. VON ST. PAUL, mündliche Mitteilung).
Als Beispiel für die dritte typische Störung, den Fortfall von Hemmungen, sei das jedem
Zoofachmann bekannte Auffressen der neugeborenen Jungen genannt, das bei fleischfressenden und omnivoren Tieren so ungemein häufig vorkommt. Man begeht kaum eine Übertreibung, wenn man behauptet, es würden von in Gefangenschaft geborenen Jungtieren solcher Arten mehr aufgefressen als großgezogen. Die unter Zooleuten, Schweine- und Kaninchenzüchtern weit verbreitete Meinung, daß zahme, d. h. dem Menschen gegenüber vertraute Tiermütter besonders zum Auffressen ihrer Jungen neigen, ist sicherlich richtig; nur ist nicht die Zahmheit an dem Hemmungsausfall schuld, sondern die die Zahmheit bedingende Vorgeschichte solcher Individuen.
Unvollständigkeiten, die im Verhalten eines unter Erfahrungsentzug aufgezogenen
Versuchstieres auftreten, können stets auf derlei pathologischen Defekten beruhen, am wahrscheinlichsten dann, wenn die Entzugsmaßnahmen massive körperliche Schädigungen setzen, wie etwa Aufzucht von Affen im Dunkeln, oder Anbringen eines Gummikragens an Ratten, der das Tier am Beriechen und Belecken des eigenen Hinterteils verhindert usw. Die unter solchen Umständen auftretenden Störungen ohne weiteres auf den Ausfall des Lernens zurückzuführen, ist naiv.
Die wichtigsten Wissensgewinne erzielt der Versuch mit Erfahrungsentzug dann, wenn
komplexe Verhaltenssysteme sich als rein phylogenetisch angepaßt erweisen, etwa, wenn ein Star, der nie die Sonne und ihre Bewegung gesehen hat, die erstaunliche Fähigkeit bekundet, eine konstante Himmelsrichtung einzuhalten, und zwar auf Grund eines Verrechnungsapparates, der eine innere Uhr, die Ermittlung des Azimuth sowie Information über den Gang der Sonne zur Voraussetzung hat (K. HOFFMANN 1952). In solchen Fällen verdient nicht nur der Scharfsinn des Experimentators, sondern auch seine hohe Kunst, Tiere wirklich gut aufzuziehen und zu halten, unsere größte Bewunderung.
Die Feststellung der Tatsache, daß uns der Versuch mit Erfahrungsentzug unmittelbar nur
sagen kann, was ganz sicher angeboren, nicht aber, was erlernt sei, wurde von behavioristischer Seite als eine tendenziöse „Theorie" ausgelegt, die nur konstruiert worden sei, um den Begriff des „Angeborenen" Verhaltens gegen die drohende Auflösung durch das Vordringen der Analyse der Lernvorgänge zu schützen
(„highly protective theory"). Die in der vorliegenden Abhandlung vorgeschlagenen Begriffsbildungen des phylogenetisch angepaßten und des individuell erlernten Verhaltens seien deshalb unbrauchbar, weil durch die eben diskutierte Leistungsbeschränkung des Isolierungsexperimentes jede Aussage darüber unmöglich werde, ob eine bestimmte Verhaltensweise von einer Tierart unter allen Umständen individuell erlernt werden müsse. Es sei ja nie die Möglichkeit auszuschließen, daß das Verhalten, dessen Erlerntwerden man an den Versuchstieren beobachtet, unter anderen Aufzuchtbedingungen, vergleichbar der Orientierung der Würger KRAMERS bei Seidenraupenfütterung, sich als unabhängig von individueller Erfahrung erweisen könnte. Deshalb sei die „Hypothese", daß bestimmte Verhaltensweisen
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„angeboren", d. h. phylogenetisch angepaßt seien, experimentell unwiderlegbar und somit ohne jeden wissenschaftlichen Wert.
Angesichts des erstaunlich tiefen Eindrucks, den dieses Argument mancherorts gemacht
hat, halte ich seine ausführliche Widerlegung hier für angezeigt. Erstens setzt das Argument völlig unbegründeter Weise voraus, daß eine einzige Art von Versuchen imstande sein müsse, „angeborenes" und „erlerntes" Verhalten voneinander zu trennen, bzw. daß es nur eine Methode, eben den Isolierungsversuch, gebe, dies zu tun. Genau wie etwa in der chemischen Analyse ein Test stets nur Anwesenheit oder Fehlen eines bestimmten Elementes zu behaupten gestattet, ist der Isolierungsversuch nur die Methode, die unter günstigen Bedingungen die sichere Aussage über das Vorhandensein einer bestimmten phylogenetischen Angepaßtheit des Verhaltens gestattet. Sowenig etwa der gerichtliche Mediziner aus dem Versagen des Arsentestes entnehmen kann, mit welchem anderen Gift das Opfer ermordet wurde, sowenig ist Analoges vom Isolierungsversuch zu verlangen. Das Argument vergißt, daß ein Lernvorgang als solcher erkannt werden kann, ohne den Versuch des Erfahrungsentzuges anzustellen, z. B. durch schlichte Beobachtung der Verhaltensontogenese im natürlichen Lebensraum. Es kann durchaus nicht das Anliegen des biologischen Forschers sein, durch ein einziges Experiment zwischen zwei Möglichkeiten zu entscheiden. Der Irrglaube, daß man dies überhaupt in der Lebensforschung immer können müsse, ist für atomistisches Denken kennzeichnend. Es ist auch in den „exakten" Naturwissenschaften legitim, schlicht festzustellen: Unter diesen und jenen Umständen geschieht dies und jenes; wenn ich den Stein frei im Raum loslasse, fällt er mit der Beschleunigung g zu Boden. Ebenso erlaubt ist es, zu sagen: Gibt man der Ratte Nestmaterial, so lernt sie es, Zusammentragen, Anhäufen, Tapezieren in eben dieser Reihenfolge auszuführen; gibt man ihr keines, so lernt sie dies nicht. Beide Feststellungen sind gute Wissenschaft, unbeschadet der bekanntlich bestehenden, wenn auch sehr unwahrscheinlichen Möglichkeit, daß der Stein etwas ganz anderes tut, und der noch erheblich unwahrscheinlicheren, daß eine mit irgendwelchen Wundermitteln gefütterte, unter phantastischen Bedingungen gehaltene Ratte die obengenannte Reihenfolge ohne Selbstdressur innehält.
Zweitens aber gibt uns der Versuch des Erfahrungsentzugs, wenn auch nicht unmittelbare
Auskunft über das, was gelernt wird, so doch verläßliche Hinweise darüber, a n w e l c h e n S t e l l e n i m A k t i o n s s y s t e m m a n n a c h L e r n v o r g ä n g e n z u f a h n d e n h a t . Wer das Aktionssystem der untersuchten Tierart aus der Beobachtung im natürlichen oder doch möglichst natürlichen Lebensraum gründlich kennt und als erfahrener Tierpfleger mit der Symptomatologie der S. 171 ff. besprochenen gefangenschaftsbedingten Ausfälle vertraut ist, der kann aus dem defekten Verhalten des Versuchstieres sehr wohl Anhaltspunkte dafür gewinnen, welche Unstimmigkeiten der Systemfunktionen durch solche Ausfälle und welche durch Ausbleiben von Lernvorgängen bedingt sind. Intensitätsverlust von Instinktbewegungen und Defekte sozialer Hemmungen sind mit den durch Erfahrungsentzug erzeugten Störungen schlechterdings nicht zu verwechseln, auch kennen wir keinen Fall, in dem sie durch Lernen kompensiert wurden.
Wer dagegen die schon seit WALLACE CRAIG bekannte andressierende Wirkung der
zielbildenden Endhandlung und vor allem die Erscheinungsform dieser selbst kennt, braucht die unerfahrene Ratte in EIBLS Versuch nur einmal „ins Leere tapezieren" zu sehen, um den Verdacht zu fassen, daß hier ein eingebauter Lehrmechanismus der Untersuchung harre, zumal wenn andere Indizien die Annahme unwahrscheinlich machen, daß es sich um eine noch
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unfertige Verhaltensweise handle. Eingebaute Lehrmechanismen sind mit großer Wahrscheinlichkeit überall dort zu vermuten, wo man Instinktbewegungen mit steilem Anstieg und noch plötzlicherem Abfall aktivitäts-spezifischer Erregung sowie mit nachfolgender Refraktärperiode findet, wie dies die zielbildende Endhandlung kennzeichnet. Gelingt es dann, unter Verwendung der letzteren als andressierendes Mittel, Lernvorgänge in Form der Entstehung einer bedingten Reaktion nachzuweisen, dann „hat" die untersuchte Art eben einen an dieser Stelle ihres Aktionssystems eingebauten Lehrmechanismus.
Dieser Schluß ist auch dann berechtigt, wenn, wie in dem einzigen bekannten Fall des
Neuntöters, Lernen einen gefangenschaftsbedingten Ausfall phylogenetisch angepaßter Verhaltensmechanismen kompensiert. Ein gefangenschaftsbedingter Selektivitätsverlust des AAM ist deshalb leicht mit einer unmittelbaren Folge des Erfahrungsentzugs zu verwechseln, weil es, wie S. 153 ff. dargelegt, eine wichtige und sehr häufige Leistung des Lernens ist, die Selektivität der Gesamtreaktion zu erhöhen. Zumal wenn, wie beim Neuntöter, der AAM einer Orientierungsreaktion, die der zielbildenden Endhandlung unmittelbar vorausgeht, defekt wird, vermag die andressierende Wirkung der letzteren ihn zu kompensieren. Wahrscheinlich spielt diese Wirkung auch im normalen Freileben des Vogels eine Rolle; vielleicht lernt er so, welche Art von Büschen geeignete Dornen hat.
Die Behauptung, die den Kern des hier in Rede stehenden Argumentes ausmacht, nämlich
daß die „Hypothese" vom phylogenetischen Angepaßtsein eines bestimmten Verhaltenselementes unwiderlegbar sei, wäre nur dann (und selbst dann nur teilweise) richtig, wenn das Zentralnervensystem von vornherein die Fähigkeit besäße, seine Funktionen an beliebiger Stelle zu verändern und wenn weiter diese Veränderungen auf Grund einer prästabilierten Kenntnis von „Gut" und „Böse" ganz selbstverständlich zum Segen des organischen Systems ausschlügen. Nur dann nämlich wäre es wirklich unmöglich, den positiven Beweis für einen Lernvorgang zu erbringen. Es erhebt sich also als dritter Einwand gegen das Argument die ganze Kritik, die S. 148 ff. an den obigen Annahmen geübt wurde.
Viertens und letztens ist es gar nicht wahr, daß unsere „protektive Theorie" niemals den
sicheren Schluß zulasse, daß die Angepaßtheit einer bestimmten Verhaltensweise auf Lernen und nicht auf den vorangehenden phylogenetischen Vorgängen beruhe. In unzähligen Fällen kann man letzteres mit absoluter Sicherheit ausschließen: So leicht, wie sich Fälle auffinden lassen, in denen, wie bei den S. 149 aufgezählten Angepaßtheiten des Verhaltens des jungen Mauerseglers, die Herkunft der anpassenden Information aus individueller Erfahrung ausgeschlossen ist, kann man auch solche nachweisen, in denen es völlig unmöglich ist, daß eine spezielle Angepaßtheit des Verhaltens ohne das Hinzukommen bestimmter, individuell erworbener Informationen zustandegekommen sein kann. Dies gilt immer dort, wo Lernen das Tier befähigt, sein Verhalten an einmalige, nur für dieses eine Individuum geltende Umweltbedingungen anzupassen. Die junge Gans kann unmöglich genomgebundene Information darüber haben, wie die Physiognomie des Gatten aussehen wird, dessen untrügliches individuelles Erkennen Voraussetzung für alle sozialen und sexuellen Reaktionsweisen ist, die er bei ihr auslöst. Die wunderbare, der „Einsicht" funktionell gleichkommende Art und Weise, in der eine Ratte sämtliche in ihrem bekannten Wohngebiet überhaupt auftretenden räumlichen Probleme beherrscht, kann unmöglich auf phylogenetischer Information allein beruhen, denn die spezielle Strukturierung dieses Wohngebiets und die sich aus ihr ergebenden Raumprobleme sind ebenso einmalig wie das Individuum, das sie meistert.
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Aus der eben gegebenen Widerlegung der Behauptung, die zweite Regel des Experiments mit Erfahrungsentzug mache die sichere Feststellung von Lernvorgängen unmöglich, ergibt sich eine banale, aber oft völlig übersehene dritte.
Sie besagt, daß der Experimentator das Bewegungsinventar der untersuchten Tierart und
die Symptomatologie der gefangenschaftsbedingten pathologischen Ausfälle genauestens kennen muß. Ist diese Bedingung erfüllt, so ist es leicht, auch kleinste Fragmente von Verhaltensweisen richtig zu erkennen und bei größeren die Stelle in der Handlungskette zu bestimmen, an welcher der normale Verlauf abbricht. Auch ist es nicht allzu schwer, einer fragmentarisch bleibenden Kette von Bewegungen auf Anhieb anzusehen, ob es sich um eine aus Mangel an Intensität unvollständig bleibende Instinktbewegung handle, wie wir sie in Gefangenschaft so häufig sehen, oder aber um einen vollintensiven Ablauf, der nur deshalb die arterhaltende Leistung nicht vollbringt, weil er an falscher Stelle ausgeführt wird. In diesem Fall ist allerdings noch die Frage zu entscheiden, ob hieran der Ausfall einer Dressur die Schuld trägt, oder ein Selektivitätsverlust an einem Auslösemechanismus.
Wer es sich nicht zutraut, das Aktionssystem einer Tierart bis ins Kleinste „auswendig zu
B e o b a c h t u n g v o n E i n z e l h e i t e n z u l ö s e n , etwa dadurch, daß man nur den Enderfolg der zu untersuchenden Verhaltensweise, etwa das Zustandekommen oder Nichtzustandekommen eines Nestes registriert, wie manche Forscher es nicht nur für erlaubt, sondern verblendeterweise auch noch für besonders „exakt" halten, als ob die tatsächliche Vielfalt der verhaltens-bestimmenden Faktoren durch die bekannte Politik von
Struthio camelus L. aus der Welt geschafft werden könnte.
Die vierte Regel, die bei jedem Isolierungsversuch beachtet werden muß, lautet: Immer muß untersucht werden, ob die Versuchsanordnung, die zwecks Ausschließung bestimmter Erfahrungsmöglichkeiten getroffen werden mußte, nicht auch bestimmte Reize fernhält, die auf Grund phylogenetischer Anpassung zur Auslösung der geprüften Verhaltensweisen nötig sind. Um zu entscheiden, ob dies der Fall sei, versetzt man einfach das unter Erfahrungsentzug groß gewordene Tier in eine natürliche Umgebung und, zur Gegenprobe, ein normales Kontrolltier in die Bedingungen des Versuches.
RIESS (1954) unterließ beides, als er mit Ratten Isolierungsversuche anstellte, indem er
seinen Tieren jede Möglichkeit benahm, feste Gegenstände ins Maul zu nehmen und herumzutragen. Als er die Tiere anschließend in einen Testkäfig mit Nistmaterial setzte und sie in einer standardisierten Zeitspanne nicht mit dem Nestbau begannen, schloß er, daß Erfahrung im Hantieren mit festen Gegenständen eine notwendige Voraussetzung für das Nestbauen sei. Als EIBL-EIBESFELDT (1955) RIESS' Versuche wiederholte, hatte ich Mühe, ihn zum oben erwähnten Kontrollversuch zu überreden, nämlich eine erfahrene Ratte in der Testsituation zu prüfen. Er hielt dies für überflüssig, da er von vornherein wußte, daß das Tier unter den
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betreffenden Umständen, d. h. nur 40 Minuten in unbekanntem Käfig belassen, nicht bauen würde, was denn auch zutraf. Den umgekehrten Versuch, nämlich unter Erfahrungsentzug großgewordene Tiere in natürlichere Bedingungen zu bringen, stellte EIBL gleich in der Weise an, daß die für den Nestbau notwendigen Reizsituationen ermittelt wurden.
Wilde, in gleicher Weise vorbehandelte Wanderratten bauten auch in Käfigen mit
Blechschirm nicht, wohl aber sofort nach Bieten reichlicherer Deckung. Bei Nichtbeachtung der zuletzt besprochenen Regel hätte bei bestimmten Versuchsanordnungen die Meinung entstehen können, es seien der weißen Laborratte bestimmte Verhaltenselemente angeboren, die von der wilden Wanderratte erlernt werden müssen.
Werden alle fünf hier aufgestellten Regeln genau beachtet, so erlaubt das Experiment mit
Erfahrungsentzug zwei sichere Aussagen: Erstens, daß die Information, die bestimmten, oft sehr hochdifferenzierten Angepaßtheiten des Verhaltens zugrundeliegt, phylogenetisch gewonnen und im Genom überliefert sei, zweitens, an welchen Stellen der Verhaltensketten Dressurvorgänge zu suchen sind, die dann allerdings noch des besonderen, durch andere Versuchsanordnungen zu erbringenden Nachweises bedürfen.
Die fünfte Regel, die so selbstverständlich ist, daß es mir nie eingefallen wäre, sie zu formulieren, wenn nicht gröbste Verstöße gegen sie von seiten anerkannter Forscher vorlägen, lautet: Man kann gleiche Ergebnisse gleicher Versuchsanordnungen nur bei Tieren annähernd gleicher Erbanlage erwarten. Wie H. SPURWAY (1955) sehr richtig betont hat, kann man „wilde" Tiere, genau genommen, nicht in Gefangenschaft fortzüchten, weil dies alle selektierenden Vorgänge so grundlegend ändert, daß schon nach wenigen Generationen der Zucht mit entsprechenden Änderungen des Genoms zu rechnen ist. Diese Änderungen können u. U. Verhaltensdefekte bewirken, die formal den durch unzureichende Aufzucht hervorgerufenen gleichen. Manche Buntbarsche
(Cichlidae) wurden von Berufszüchtern in künstlicher Massenaufzucht vermehrt, so daß
Brutpflegeverhaltens wegfiel. Bei
Pterophyllum eimeckei und bei
Apistogramma ramirezi hat dies
in wenigen Jahren dazu geführt, daß unter den im Handel erhältlichen Tieren kaum noch solche
sind, die zur Aufzucht der eigenen Brut befähigt sind; die meisten fressen ihre Eier kurz nach dem
Ablaichen auf. Beim Texascichliden,
Herichthys cyanoguttatus, haben LEYHAUSEN und ich kurz
vor dem Ende des letzten Krieges eine hochspezialisierte Warnbewegung des
♀ und eine durch
sie ausgelöste, zur Mutter hin gerichtete Fluchtreaktion der kleinen Jungfische beobachtet. Bei
dem Stamme dieser Art, der in wenigen Exemplaren in Deutschland den Krieg überlebt hat, fehlt
sowohl die Warnbewegung wie die Reaktion der Jungen völlig.
Wenn derartiges bei Wildtieren eintritt, die nur wenige Jahre der natürlichen Selektion
entzogen sind, so sind bei Haustieren, für die dasselbe seit Jahrtausenden gilt, mindestens ebenso tiefgreifende Veränderungen zu erwarten. Nun wollten J. HIRSCH, R. H. LINDLEY und E. C. TOLMAN 1953 Ergebnisse, die TINBERGEN 1937 an Truthühnern, Silber- und Goldfasanen sowie an Graugänsen über phylogenetisch angepaßte Reaktionen auf Raubvögel erlangte, nicht nur in Zweifel ziehen, sondern versuchten sie sogar zu widerlegen: "The TINBERGEN hypothesis that . was tested on the white leghorn chicken and found to be untenable under strict laboratory conditions." Dies
K. Lorenz 1961 Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Verhaltens
ist genau so sinn- und einsichtsvoll, wie wenn jemand schriebe: „Die Hypothese des Herrn X, daß im Fell des Hamsters Melanine vorhanden seien, wurde unter exakten Laboratoriumsbedingungen an weißen Mäusen nachgeprüft und als unhaltbar befunden." Wenn Herr X Melanine vorfand, war das auch keine „Hypothese"!
Aufgabe vorliegender Abhandlung ist: A. Den Begriff zu untersuchen, den die modernen Ethologen, die den Terminus „angeboren" nicht mehr auf Verhaltensweisen anwenden, mit der Bezeichnung „was wir früher als angeboren bezeichneten" verbinden. B. Die Leistungen und die Leistungsgrenzen des Experiments der Aufzucht unter Erfahrungsentzug aufzuweisen. A. I. Folgende theoretische Einstellungen zum Begriff des Angeborenen werden kritisiert:
1. Die mancher behavioristischer Psychologen, die diesen Begriff ablehnen, weil a) die
Dichotomie des Verhaltens in angeborene und erlernte Bestandteile nur ein Kunstprodukt sei, erzeugt dadurch, daß man keines von beiden anders als durch den Ausschluß des anderen definieren könne, und weil b) nie festzustellen sei, wieviel ein Organismus schon im Ei oder in utero gelernt habe.
2. Die vieler englisch publizierender Ethologen, die den Begriffen des Angeborenen und
des durch Umgebungsfaktoren Hervorgebrachten aus praktisch-experimentellen Erwägungen allen Wert absprechen. Ein Versuch mit Erfahrungsentzug samt Kontrollexperiment könne nur die Wirksamkeit je eines einzigen Umgebungsfaktors auf die Entwicklung eines bestimmten Verhaltenselementes ausschließen. Dessen volle Erbgebundenheit zu behaupten sei selbst nach einer ungeheuren Zahl von Versuchen unmöglich, da stets noch ein weiterer, nicht untersuchter Faktor für die Ontogenese des betreffenden Elementes wesentlich sein könne.
Außerdem nehmen jene Forscher an, Lernen mische sich in jedes, selbst das kleinste
phylogenetisch angepaßte Verhaltenselement und das, was wir früher als „angeboren" und als „erlernt" bezeichneten, seien nur die Endglieder einer stufenlosen Obergangsreihe aller möglichen Verquickungen.
3. Die der älteren Ethologen, die „Angeborenes" und „Erlerntes" als konträre Begriffe
betrachten und sich das Zusammenwirken beider als eine „Verschränkung" größerer, durch Lernen unbeeinflußbarer Verhaltens-Systeme mit Lernmechanismen vorstellen, die an bestimmten, phylogenetisch „präfor mierten" Stellen der Verhaltensketten eingebaut sind.
II. Kritik an 1a: „Angeborenes" und „Erlerntes" sind nicht eines durch den Ausschluß des
anderen definiert, sondern durch die H e r k u n f t
A n g e p a ß t h e i t s i n d . Wenn diese Definition zunächst neu scheint, so ist es der ihr entsprechende Begriff nicht. Wir haben immer an spezifisch a n g e p a ß t e s Verhalten gedacht, wenn wir von Verhalten schlechthin sprachen, und an ein solches, dessen spezifische Angepaßtheit auf genomgebundenen „Planskizzen" beruht, wenn wir es angeboren nannten. Es gibt nur zwei Wege, auf denen die Information, die Voraussetzung jeder Anpassung ist, in das organische System gelangen kann:
1. Entweder ist es die A r t , die ihre Umwelt mittels der „Methode" von Mutation und
Selektion, die deduktionsloser Induktion gleichkommt, erforscht und die gewonnene Information im Genom speichert. Dieser Informationserwerb
K. Lorenz 1961 Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Verhaltens
ist einem Lernen durch Versuch und Irrtum, die Speicherung einer Gedächtnisleistung funktionell analog.
2. Oder aber es ist das I n d i v i d u u m , das in Wechselwirkung mit seiner Umwelt
weitere Information gewinnt. Dies geschieht erstens bei allen „unbedingten" Reaktionen auf Außenreize, die aber nur das
hic et nunc des Verhaltens bestimmen, ohne seine Struktur zu modifizieren, zweitens aber durch adaptive Modifikation, die, wo sie Mechanismen des Verhaltens betrifft, Lernen genannt wird.
Die „Dichotomie" des Verhaltens in angeborenes und erlerntes ist in zweifacher Weise
irreführend, aber durchaus nicht in der vom kritisierten Argument behaupteten:
1. Es ist weder durch Beobachtung noch durch Experimente auch nur im Geringsten
wahrscheinlich gemacht, noch weniger aber eine Denknotwendigkeit, daß jeder phylogenetische Verhaltensmechanismus einer adaptiven Modifikation durch Lernen unterliege, wenn auch jede „Handlung" — im Sinne einer funktionell ganzheitlichen Verhaltensweise — insofern individuell erworbene Information enthält, als Ort, Zeit und oft auch Richtung durch augenblicklich eintreffende Reize bestimmt werden, m. a. W. durch unbedingte Reflexe im Sinne I. P. PAWLOWS.
2. Umgekehrt aber enthält alles „erlernte" Verhalten insofern phylogenetisch gewonnene
Information, als jeder Lernleistung ein unter dem Selektionsdrucke eben dieser Funktion im Laufe der Stammesgeschichte entstandener physiologischer Apparat zugrundeliegt. Wer dies leugnet, kann nur durch Annahme einer prästabilierten Harmonie zwischen Organismus und Umwelt erklären, daß Lernen, von seltenen und aufschlußreichen Fehlleistungen abgesehen, stets arterhaltend zweckmäßiges Verhalten verstärkt, unzweckmäßiges aber auslöscht.
Die Häufigkeit des Zusammenwirkens von phylogenetischer Anpassung und adaptiver
Modifikation des Verhaltens kann ebensowenig wie die weitgehende funktionelle Analogie der Wege, auf denen beide die jeder Angepaßtheit zugrundeliegende Information gewinnen, ein Grund sein, die Zweiheit dieser Wege zu leugnen und auf ihre prinzipiell stets mögliche Erforschung zu verzichten. Ebensowenig ist hier die Tatsache von Belang, daß phylogenetische Angepaßtheit die Information nur auf einem, adaptive Modifikation jedoch stets auf beiden Wegen bezieht. Den Begriffen der phylogenetischen Anpassung und der adaptiven Modifikation in ihrer Anwendung auf Verhalten allen analytischen Wert abzusprechen, ist ebenso unsinnig, als wollte man dies auf einem beliebigen anderen biologischen Gebiet, etwa dem der Morphogenese deshalb tun, weil beide Vorgänge sich oft in einer Wirkung überlagern und, im Fall der Phänokopie, manchmal sogar völlig gleiches bewirken.
Kritik an 1b): Wiewohl die Möglichkeit des Lernens im Ei oder Uterus grundsätzlich
besteht, kann dieses nur Anpassung an Bedingungen erzielen, die ebendort bereits gegeben sind, wie an Strukturen des eigenen Körpers, gewissermaßen allgegenwärtige physikalische Gesetze u. ä. Die Hypothese, es könnten im Ei Verhaltenselemente gelernt werden, die auf Umweltgegebenheiten passen, denen das Tier erst später begegnet, wie etwa die, daß das Hühnchen im Ei durch die passiven Bewegungen, welche der Herzschlag dem Kopf des Embryos aufzwingt, Elemente des Nahrungspickens lernen könne, enthält implicite den Glauben an prästabilierte Harmonie, woferne man nicht die Existenz eines besonderen, phylogenetisch angepaßten Lehrapparates annimmt.
Unter den Informationen, die komplexen, phylogenetisch angepaßten Verhaltenssystemen
zugrundeliegen, wie etwa der Balz eines Springspinnenmännchens
K. Lorenz 1961 Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Verhaltens
oder dem orientierten Fliegen eines Mauerseglers, ist der Anteil der durch Lernen gewonnenen selbst bei Zugeständnis der unwahrscheinlichsten Lernmöglichkeiten so gering, daß die Aussage, sie seien rein phylogenetisch angepaßt, eine so minimale Ungenauigkeit aufweist, wie sie wissenschaftlichen Aussagen selten beschieden ist.
Kritik an 2.: Die Behauptung, angeborene und umgebungsbedingte Verhaltensmerkmale
seien analytisch nicht voneinander zu trennen, weil unendlich viele Versuche mit Ausschaltung einzelner Umgebungsfaktoren samt Kontrollen nötig wären, um volle Genom-Abhängigkeit eines Verhaltenselementes zu erweisen, enthält einen Denkfehler: Sie läßt außer acht, daß jede Angepaßtheit des Verhaltens an eine bestimmte Umweltgegebenheit einer abbildenden Information derselben entspricht, d i e n u r v o n i h r s e l b s t i n d a s o r g a n i s c h e S y s t e m g e l a n g t s e i n k a n n . Wenn beim Stichling Kämpfen auf das Merkmal „unten rot" anspricht und bekannt ist, daß der Rivale tatsächlich unten rot ist, so kann die im Auslösemechanismus enthaltene Information nur der Auseinandersetzung mit dem Objekt entstammen. Bleibt die Reaktion bei Ausschaltung individueller Auseinandersetzungen erhalten, so muß die Planskizze eines rezeptorischen Apparates, der selektiv auf „unten rot" anspricht und Kämpfen auslöst, als Ganzes im Genom gegeben sein. Es ist nicht nötig, alle anderen Umweltfaktoren zu untersuchen, da besagte Planskizze unmöglich in ihnen enthalten sein kann, selbst wenn sie zur Ausbildung der Reaktion nötig sein sollten, wie Futter, Sauerstoff usw. Der strukturelle Apparat aber, ohne dessen Erzeugung die Planskizze sich nicht in eine arterhaltende Funktion umsetzen könnte, ist ein M e r k m a l , auf das der Terminus „angeboren" anwendbar ist, unbeschadet der Tatsache, daß zu seiner ontogenetischen Entstehung unzählige Umweltgegebenheiten oft sehr spezifischer Art nötig sind. Das Ausklammern arterhaltender Funktion und phylogenetisch gewordener Struktur aus aller experimentellen Fragestellung entspricht den gleichen Denkfehlern der Behavioristen, die mit „operationellen" Begriffsbildungen allein auszukommen versuchen.
Die gleiche Verwandtschaft zu behavioristischen Lehrmeinungen zeigt die zweite zu
kritisierende Annahme. Wie in Kritik von 1a dargelegt, entbehrt die Hypothese allgemeiner und grundsätzlicher Modifizierbarkeit phylogenetisch angepaßter Verhaltensmechanismen stützender Tatsachen. Gegen die hier im besonderen zu kritisierende Annahme, daß auch kleinste Elemente modifizierbar seien, ist einzuwenden, daß dann auch eine entsprechende Anzahl besonderer Lernmechanismen, oder aber prästabilierte Harmonie angenommen werden müßte. Auch ist die diffuse Mischbarkeit phylogenetischer und modifizierender Anpassung des Verhaltens schon deshalb theoretisch extrem unwahrscheinlich, weil das beschränkte Lernen, dessen ein Tier fähig ist,
Verhaltenssysteme, wie etwa den der Verrechnung der Sonnenbahn bei gewissen Orientierungsvorgängen u. ä. nur stören, nie aber adaptiv verbessern könnten, wenn diese an beliebiger Stelle durch Lernen veränderlich wären.
Es entspricht also einer theoretisch zu hegenden Erwartung, wenn voraussetzungslose
Untersuchungen der Ontogenese sowohl, wie der modifikatorischen Regulationsfähigkeit von Verhaltenssystemen immer nur an bestimmten, präformierten Stellen Lernvorgänge eingebaut finden, z. B. als zentrale, für komplexe Reizsituationen spezifische „Adaptation" oder Gewöhnung im afferenten Sektor von Auslösemechanismen, als Eichungsvorgang bei Zielmechanismen (MITTELSTAEDT 1957, HESS 1956) als „Uhrenstellung" bei arkadischen Rhythmen, als „Einstellung" bei Navigationsmechanismen
K. Lorenz 1961 Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Verhaltens
KRAMER 1955, HOFFMANN 1952, BRAEMER 1959), sowie als Lernen einer richtigen Reihenfolge funktionell zusammengehöriger Instinktbewegungen (EIBL 1955) usw.
Kritik an 3.: Die schon in 1a kritisierte falsche Gegenüberstellung von „angeboren" und
„erlernt" als disjunktiver Begriffe ist wohl nicht nur der Ausdrucksweise, sondern auch dem Denken älterer Ethologen vorzuwerfen. Phylogenetisch gewonnene Information kann durchaus in der Morphologie des Körpers enthalten sein und durch Lernvorgänge „dechiffriert" werden. Es ist daher wenigstens prinzipiell möglich, daß dieselbe Verhaltensweise zur Gänze auf Grund phylogenetisch gewonnener Information angepaßt und gleichzeitig zur Gänze erlernt ist. Doch findet in vielen experimentell untersuchten Fällen (EIBL, im Druck) die „Verschränkung" von phylogenetisch angepaßten Verhaltensweisen und Lernvorgängen genauso statt, wie schon HEINROTH es sich vorgestellt hatte.
Atomistisches Denken ist den älteren Ethologen insofern vorzuwerfen, als sie sich —
wenn auch in Antithese zu den Behavioristen — nur für phylogenetisch angepaßtes Verhalten interessierten und den Begriff des „erlernten" und „einsichtigen" Verhaltens als Sammeltopf für unanalysierte Restbestände verwendeten. Die Frage, welche phylogenetisch angepaßten Strukturen der Afferenz es seien, die das Lernen in arterhaltend günstige Bahnen lenken, wurde nie gestellt und infolgedessen lange übersehen, wie sehr der gesamte physiologische Mechanismus der zielbildenden Endhandlung
(consummatory act) an die besondere Funktion angepaßt ist, als positives Dressurmittel zu wirken.
Solcher Atomismus tat nur deshalb verhältnismäßig wenig Schaden, weil das
herausgegliederte Element, die Instinktbewegung oder Erbkoordination, ein weitgehend ganzheitsunabhängiger Baustein des Verhaltens ist, der von der Ganzheit des Systems her w e i t weniger beeinflußt wird als er sie seinerseits beeinflußt. Heuristisch war m. E. selbst die naivste Gegenüberstellung von „angeboren" und „erworben" weniger schädlich, als es die Annahme diffuser Mischbarkeit phylogenetischer und erlernter Verhaltensanpassung ist. B. Das Experiment der Aufzucht unter Erfahrungsentzug
Das Experiment der Aufzucht unter Erfahrungsentzug ist das wichtigste Mittel zur
Beantwortung der Frage nach der Herkunft der Information, die einer bestimmten Angepaßtheit des Verhaltens zugrundeliegt. Bei seiner Anwendung müssen fünf methodologische Regeln beachtet werden.
1. Der Versuch mit Erfahrungsentzug kann nur über die H e r k u n f t einer als solcher
erkannten Angepaßtheit des Verhaltens Auskunft geben. Auf Verhaltenselemente, deren Struktur nicht unter dem Selektionsdruck einer bestimmten arterhaltenden Funktion differenziert wurden — was indessen auch bei manchen Epiphänomenen des Verhaltens, wie Übersprung- und Intentionsbewegungen der Fall ist — kann die dem Versuch zugrundeliegende Fragestellung nicht angewendet werden. Für nicht strukturierte Epiphänomene — und nur für solche — trifft die Erwägung (S. 141) zu, die zur Behauptung von der Unmöglichkeit experimenteller Trennung angeborener und umgebungsbedingter Verhaltensmerkmale führte.
2. Der Versuch kann u n m i t t e l b a r e Auskunft nur darüber geben, welche
Angepaßtheiten n i c h t des individuellen Lernens bedürfen, jene nämlich, die beim Versuchstier trotz Entzugs einschlägiger Erfahrungsmöglichkeit ungestört sind. Aus Ausfällen darf nie ohne weiteres geschlossen werden, daß der Defekt durch Informationsmangel erzeugt ist, der nur eine von vielen möglichen Ursachen darstellt. Kleinste Gesundheitsstörungen können
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Intensitätsverlust von Instinktbewegungen, Schwund sozialer Hemmungen und Verminderung der Selektivität
Auslösemechanismen
Isolierungsversuch sei analytisch wertlos, da er nur Angeborenes, nicht aber individuell Erworbenes zu diagnostizieren gestatte, wird gründlich widerlegt. Wer das Erscheinungsbild der gesundheitsbedingten Störungen kennt, kann höchstens die des AAM mit Folgen von Erfahrungsentzug verwechseln. Daraus ergibt sich:
3. Der Experimentator muß reichliche Erfahrung in der Kunst der Tierhaltung besitzen,
einen wohlgeübten „klinischen Blick" haben und sowohl das normale Aktionssystem der untersuchten Art als auch die Symptomatologie der erwähnten Störungen genau kennen.
4. In jedem Experiment mit Erfahrungsentzug muß besonders geprüft werden, ob die zu
seinen Zwecken hergestellte Situation dem Tiere nicht auch gewisse Reize vorenthält, die für das Ansprechen wesentlicher angeborener Auslösemechanismen unentbehrlich sind. Diese Prüfung geschieht, indem man einmal das Versuchstier unter die Bedingungen des natürlichen Lebensraums der Art, das andere Mal ein normales Kontrolltier unter die des Versuches bringt. Unterlassen dieser Probe und Gegenprobe führte RIESS (1954) zu völlig falschen Schlüssen.
5. Übereinstimmung von Ergebnissen, die erbgebundene Verhaltensweisen betreffen,
kann nur bei Verwendung erbgleicher Tierstämme erwartet werden. Man kann also nicht an Puten und Fasanen gewonnene Resultate an weißen Leghorns nachprüfen (HIRSCH, LINDLEY und TOLMAN 1955).
The two aims of this paper are:
A. To investigate and discuss the concept which modern ethologists who, for
terminological and other reasons, refrain from using the word "innate" are associating with the expression "what we formerly called innate".
B. To demonstrate the cognitive value of the deprivation experiment, its limits and certain
methodological rules which must be heeded.
A. I. In pursuit of the first of these two aims, the following three attitudes taken towards
the concept of the "innate" as applied to behaviour are discussed and criticized:
1. That of many behavioristic psychologists who deny all value to the concept on the basis
of the two arguments that a) the "dichotomy" of behaviour into "innate" and "learned" is nothing but an artifact, as the one can be defined only by exclusion of the other; and that b) nobody can ever know how much an organism has learned in the egg or in utero.
2. That of many modern ethologists, mainly those publishing in English, who deny
analytical validity to the concepts of innate and learned — as applied to behaviour elements — reasoning that one deprivation experiment with its control can, at best, show that one environmental factor is of no influence on the ontogenetic development of a given element of behaviour. To justify the assertion that this element is innate, a vast number of experiments, not infinite but practically unattainable, would be necessary. Furthermore, it is assumed that innate and environment-induced properties intermingle in each, even the smallest behaviour element and that what we formerly called innate and learned are only the two extreme ends of a continuum formed by all possible forms of mixtures, made possible by an unlimited mutual permeability.
K. Lorenz 1961 Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Verhaltens
3. That of the older ethologists who regarded "innate" and "learned" as mutually exclusive
concepts and visualized the interaction of learned and innate behaviour mechanisms in the form of an "intercalation", consisting, on one hand, of more or less self-contained inherited neurophysiological mechanisms, unchangeable by learning; on the other hand of learning mechanisms filling the "interstices" in the chain of innate behaviour patterns.
Critique of l a ) : "Innate" and "learned" are not at all defined one by exclusion of the
If this definition seems new, the underlying conceptualizations are old. When we speak of
behaviour and its problems we imply adapted behaviour, and the problems of adaptation. When we call a behaviour pattern "innate" we mean that the specific structure responsible for its adaptedness is based on Information contained in the genoma, and when we call a behaviour element "learned", we imply that the information underlying its adaptedness is, at least partly, acquired by the individual.
There are only two ways in which information is ever "fed into" the organic System: 1.
Either it is the s p e c i e s which, by means of mutation and selection, a "method" functionally equivalent to that of pure, deduction-less induction, explores its environment and stores the information thus gained in its genoma. The process of exploration is also functionally analogous to that of learning by trial and error, that of information-storing to memory. 2. Or else it is the i n d i v i d u a l which, in interaction with its environment, gains information. This happens a) in any "unconditioned response" to environmental stimuli which determine only the now and here of behaviour without, in themselves, modifying the structure of the behaviour, and b) in any m o d i f i c a t i o n developing adaptive value. Where this modification concerns mechanisms determining behaviour, we call it l e a r n i n g .
The "dichotomizing" of behaviour into the contrasting and mutually excluding
conceptualizations of the "innate" and the "learned" is indeed misleading, but in a way directly opposite to that implied by the first behavioristic argument: 1. On one side, neither observational evidence nor results of pertinent experimentation support, even to the slightest degree, the assumption that every phylogenetically adapted neural mechanism governing behaviour is, on principle, subject to adaptive modification. Still less it is a logical necessity to think so. This is in no way contradicted by the fact that, in the vast majority of cases, animal "actions" — in the sense of more highly integrated behavioural units — do contain individually received information concerning environment, as they invariably contain unconditioned responses determining time, place and direction of the action. 2. On the other hand, every learning process has, for its indispensable prerequisite, an inherited structure evolved by the species in interaction with environment and containing information about it. Whoever denies the presence of genoma-transmitted information in the mechanisms underlying learning processes, can account for their undeniable survival value only by assuming a prestabilized harmony between organism and environment. The rare cases in which learning fails to achieve survival value are illuminating in regard to the way in which phylogenetically acquired information is "programmed" into the innate teaching mechanism.
Neither the extreme frequency of close cooperation existing between phylogenetic
adaption and adaptive modification in behaviour, nor the close
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functional analogy of the procedures by which the two of them extract, from the environment, the information on which to base adaptation, must ever mislead us into overlooking the duality and independence of these two ways, nor into resigning from the duty to tracing back to its source the information underlying the adaptedness to any of the environmental givens. Nor are we dispensed from this duty by the fact that, while phylogenetic adaptedness derives its information from one source only, both sources are involved in any process of learning. To deny "analytical validity" to the concepts of phylogenetic adaptation and adaptive modification in their application to behaviour study would be just as unfounded as in any other sphere of biological research. Nobody thinks of abandoning the two concepts in morphogeny, in spite of the fact that both processes are usually superimposed in one effect and that, in the case of phenocopy, the effect of one is outwardly indistinguishable from that of the other.
Critique of 1b. Though it is indubitably possible that the embryo learns something while
within the egg or in utero, the learning processes taking place there can only gain information on such external and internal data as are accessible within this confinement, for instance, concerning some ubiquitous laws of physics or the own body. The hypothesis, however, that the embryo acquires, by learning within the egg or uterus, behaviour mechanisms a d a p t e d t o e n v i r o n m e n t a l g i v e n s w h i c h i t e n c o u n t e r s o n l y l a t e r i n l i f e , for instance, that the chicken learns elements of pecking by having its head moved rhythmically up and down by its own heartbeat, implicitly contains the belief in a prestabilized harmony between organism and environment, or else, the assumption of a phyletically adapted teaching mechanism which contains the required information.
The mention of the latter possibility is not meant as a reductio ad absurdum, quite on the
contrary, it is an important truth contained in the second behavioristic argument that information contained in the genoma can be "doubly decoded", first by morphogenesis and then by the individual learning to use its bodily structures.
However, in complicated phylogenetically adapted behaviour systems, as in the oriented
flight of a newly fledged swift, or in the courtship activities of a male salticid spider, the relative content of information acquired by learning is infinitesimal, even if one concedes the most improbably possibilities: Hence the error contained in describing such activities as being "wholly innate" is demonstrably negligible.
Critique of 2: A serious fallacy is contained in the reasoning that innate and environment-
induced elements of behaviour cannot be distinguished, because it would need an unattainably large number of experiments to prove that one single behaviour element is fully innate. This fallacy lies in neglecting the fact that adaptedness of behaviour to any of the givens of environment implies information concerning that particular given having been fed into the organic system and, furthermore, that this information c a n n o t s t e m f r o m a n y o t h e r e n v i r o n m e n t a l f a c t o r e x c e p t t h a t p a r t i c u l a r g i v e n . If the configuration "red below" releases rival fighting in a stickleback and if the rival male is, indeed, red below, then we know that this correlation can only have originated out of the interaction between male sticklebacks. If we experimentally exclude individual interaction in ontogeny and the response still develops normally, we know that the whole "blue-print" of a speeifically structured receptor and effector apparatus is contained
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in the genoma. This is in no way contradicted by the fact that a host of other environmental factors are necessary to furnish the materials indispensable for putting into execution the plan contained in the blueprint. As the genoma-bound information cannot develop survival function without having been converted into structure — which is a "character" — the word innate, as here defined, not only can, but must be applied to characters.
The origin of the fallacy here under discussion lies in the all-too fashionable belief that it
is legitimate to choose randomly an experimental operation, preferably binary, and allow the corresponding operational concepts to determine the problem to be investigated, thereby excluding from consideration all problems not approachable in this simple manner. This fallacy certainly does not lie in operationalism as such. A l l truly scientific conceptions are basically "operational", but the operations are determined by problems and not vice versa. Also, the problems posed to us by organic structure and its evolutional origin require rather more complicated operations than the binary experiments which are the only approach admitted by the pseudo-operationalism here criticized, which, for this reason, excludes from its considerations such things as organic structure, evolution, adaptation, etc., in short the whole organism.
The second assumption made by modern ethologists and here to be discussed also shows
close affinity to behavioristic theory. As has been explained in the critique of the first behavioristic argument (p. 142 ff.), the hypothesis of unlimited mixability and mutual permeability of phylogenetic adaptation and learning is not based on facts. In particular the assumption that learning is "entering into" even the smallest elements of behaviour is open to the reproach of either implying the assumption of an almost infinite number of in-built teaching mechanisms, or else that of implying a prestabilized harmony. In the case of highly differentiated phylogenetically adapted mechanisms, as, for instance, that of the starling computing its bearings on the basis of a genetically transmitted knowledge of the sun's movement, the assumption that leaning is able to change any optional part of the neural organisation implied by this amazing function, is more than improbable on the ground of the simple consideration that it would be very much more likely to destroy than to improve its precision. "Ratiomorph" computing processes in human perception are demonstrably inaccessible to learning.
An expectation deducible from biological facts and the simplest rules of information
theory is confirmed if, in all pertinent investigations of the ontogeny of phylogenetically adapted behaviour and of learning, adaptive modifiability never was found to be diffusely distributed over the whole system of actions, but always restricted to circumscript functions of specific and demonstrable adaptive value. As illustrations of this principle, examples are given of "habituation"; i. e., stimulus specific waning of response, of the reciprocal process of increasing the selectivity of a response by learning, of the "calibration" of aiming mechanisms (MITTELSTAEDT, HESS), of the "setting" of internal clocks in circadian rhythms (PITTENDRIGH), of the adjusting of computers serving navigation (BRAEMER, JANDER), of learning the efficient sequence of fixed motor patterns (EIBL-EIBESFELDT) and, finally, of the learning of "skilled" movements on the basis of elementary motor coordinations termed "voluntary".
Critique of 3: Like behaviorists, the older ethologists were guilty of a misleading mutually
excluding conceptualization of the "innate" and the "learned". They neglected on one hand the possibility of "double decoding",
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as expounded in the discussion of the second behavioristic argument, and, on the other hand, they never realized the part phylogenetic adaptation took in the evolution of learning mechanisms. Their worst "blind spot" was ignoring the influence exerted on the evolution of the consummatory act by the selection pressures exerted by its function of a reinforcement, in other words of a true innate teaching mechanism. By being interested exclusively in phylogenetically adapted behaviour mechanisms and by using the conceptions of learning and insight as a "dump" for unanalyzed residue, older ethologists incur the reproach of atomism.
The deprivation experiment is an indispensable means to decide some specific questions whose nature must be kept in mind and in whose investigation five methodological rules must be observed.
1. The deprivation experiment can justify assertions only concerning the o r i g i n o f
t h e i n f o r m a t i o n underlying the adaptedness of an animal's behaviour to a certain given of its environment. Hence it is not applicable to behaviour elements not clearly possessing a structure evolved under the selection pressure of some survival value. Only for unstructured epiphenomena do the considerations hold true which lead to the otherwise quite erroneous assertion that innate and environment-induced properties of behaviour cannot be experimentally distinguished.
2. The experiment can justify i m m e d i a t e assertions only in regard to what behaviour
mechanisms do n o t need learning in order to achieve full adaptedness. Defects and maladaptiveness in the behaviour patterns of a subject, such as loss of intensity in motor patterns, loss of strength of social inhibitions and loss of selectivity in innate releasing mechanisms, are frequently caused by a slight deficiency in the animal's health and may not, without consideration of these possibilities, be attributed to the subject's lack of experience. An extensive refutation is given of the argument that the deprivation experiment should be regarded as not analytically valid as it can prove directly only what is not learned and not what is learned. Anybody can distinguish the above mentioned disturbance from the consequences of lack of learning if he fulfills the requirements of the next rule:
3. The investigator must be thoroughly familiar with the action system of the species used
in the experiment and he must have an experienced "clinical eye", watching over the perfect health of his subject, and enabling him to get thoroughly conversant with the symptomatology of the pathological disturbances above discussed.
4. In every deprivation experiment the imminent possibility must be excluded that the
experimental set-up devised to deprive the subject of a specific kind of information, does not withhold certain stimulus situations necessary for the elicitation of phylogenetically adapted responses. This rule is easily complied with by putting a normal control animal into the circumstances of the experiment and conversely, an experimental subject into a situation equaling the normal habitat of the species.
5. Agreement of results regarding behaviour based on information transmitted by the
genoma can be expected only when genetically identical animals are used in the experiment. It is on principle impossible to check results gained with pheasants and turkeys by using white leghorn chickens.
K. Lorenz 1961 Phylogenetische Anpassung und adaptive Modifikation des Verhaltens
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Source: http://www.klha.at/papers/1961-PhylogenAnpassung.pdf
TROOP 505 OVER THE COUNTER (OTC) MEDICATION AUTHORIZATION This form authorizes registered adult leaders of Troop 505 of Naperville Illinois to dispense "over the counter" (non-prescription) medications to scouts under their supervision if in their judgment it is appropriate. Execution of this form is voluntary; however, under BSA policy, adult leaders are prohibited from
Medicina, Psicologia, Biologia, Normativa e Scienze varie: tutto cio' che fa cultura SCIENZA E PROFESSIONE Anno 7 numero 10 Sospeso il Rosiglitazone (Avandia, Avandamet Avaglim) Incertezze sul rapporto rischio-beneficio. I pazienti dovranno essere guidati a modificare la cura, ma senza allarmismi. Multe effettuate sclerosi multipla Nulle dal 2007 in vero utile se il can-