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Société Suisse d'Odonto-Stomatologie
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4056 Basel
Forschung · Wissenschaft
Zahnärztliche Betreuung von Leukämiepatienten
TUOMAS WALTIMO1, SUSANNE CHRISTEN2,J
Die Diagnose «Leukämie» fordert meist ein rasches Eingreifen
UKKA H. MEURMAN3 und ANDREAS FILIPPI4
in den Organismus und die Immunabwehr des Patienten, um
1 Institut für Präventivzahnmedizin und Orale Mikrobiologie,
dessen Leben zu retten. Die Stammzelltransplantation ermög-
Universitätskliniken für Zahnmedizin, Universität Basel
licht eine intensive, aber auch aggressive antineoplastische
2 Departement für Innere Medizin, Universität Basel
Therapie der erkrankten Patienten. Die erforderliche Immun-
3 Klinik für Mund- und Kieferkrankheiten der Universität
suppression birgt jedoch die Gefahr, dass orale Infektionen
erhebliche systemische Komplikationen initiieren können.
4 Klinik für zahnärztliche Chirurgie, -Radiologie, Mund- und
Deshalb ist vor einer geplanten Chemotherapie mit Stamm-
Kieferheilkunde, Universitätskliniken für Zahnmedizin,
zelltransplantation eine professionelle Focussuche erforder-
lich. Vor, aber auch während und insbesondere nach einer solchen Behandlung kommt der zahnärztlichen Betreuung betroffener Patienten eine ganz wesentliche Bedeutung zu, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung meist sehr kurz-fristig konfrontiert worden sind und für die ihre Zähne mo-mentan eher Nebensache sind.
Schweiz Monatsschr Zahnmed 115: 308–315 (2005)
Schlüsselwörter: Leukämie, Chemotherapie, Stammzelltransplantation, Nebenwirkungen, Focussuche
Zur Veröffentlichung angenommen: 7. Januar 2005
ration atypischer Zellen in verschiedene Organe, welche mit Reizerscheinungen, Vergrösserung und Funktionsminderung
Leukämie ist ein Sammelbegriff für Reifungsstörungen von
reagieren. Die Folgen sind Anämie, Blutungen infolge von
Leukozyten. Hierbei treten unreife, von der Norm morpholo-
Thrombozytopenie (Abb. 1) und Infektionen durch die resultie-
gisch und biochemisch abweichende Zellen im Blut und den
rende Abwehrschwäche (KIRCH 1994).
blutbildenden Organen auf. Das Krankheitsbild entsteht allmäh-
Die Einteilung der Leukämien erfolgt nach morphologischen,
lich durch Verdrängung normaler Blutzellen sowie durch Infi lt-
zytochemischen, immunchemischen, zytogenetischen und mo-lekularbiologischen Kriterien der atypischen Zellen sowie nach dem klinischen Verlauf (akut oder chronisch). Zusätzlich ist eine Unterscheidung zwischen sub- und aleukämischen (= normale oder erniedrigte Leukozytenzahl im Blutbild, häufi g bei akuter Leukämie) und leukämischen Verlaufsformen (= erhöhte Leu-
kozytenzahl im Blutbild, häufi g bei chronischen Leukämien)
Priv.-Doz. Dr. Andreas Filippi
üblich (Tab. I).
Klinik für zahnärztliche Chirurgie, -Radiologie, Mund- und
Die Ursachen für die Entstehung einer Leukämie sind nicht
Kieferheilkunde, Universitätskliniken für Zahnmedizin
geklärt. Mögliche Faktoren, die das Leukämie-Risiko erhöhen,
Hebelstrasse 3, CH-4056 Basel
sind insbesondere ionisierende Strahlen (z. B. Strahlentherapie),
Tel. 061/267 26 09, Fax 061/267 26 07
einige Chemikalien (z. B. Benzol, Zytostatika), Viren sowie gene-
E-Mail: andreas.fi [email protected]
tische Prädispositionen. Erhöhte Leukämiehäufi gkeit fi ndet sich
AML zu erkranken, erhöht sich bei Erwachsenen ab dem 40. Le-bensjahr. Auch sie wird wiederum in mehrere Untergruppen differenziert. Die Behandlungserfolge mit Zytostatika sind ge-ringer als bei der ALL (LITTLE et al. 2002). Insbesondere bei jungen Patienten kommt zusätzlich eine Knochenmark- oder Stammzelltransplantation in Frage, was die Prognose für ein erkrankungsfreies Überleben verbessert (CHAUNCEY 2004). Bei älteren an AML erkrankten Patienten ist hingegen mit einer schlechten Prognose zu rechnen (CHAUNCEY 2004).
Chronisch lymphatische Leukämie (CLL)
Die CLL wird zu den Non-Hodgkin-Lymphomen gerechnet und ist die häufi gste Leukämie-Art in westlichen Ländern(OSCIER et al. 2004). Die weltweite Inzidenz dieser häufi gsten Form der Leukämie beträgt etwa 3 Neuerkrankungen/100 000 pro Jahr. Das Häufi gkeitsmaximum neu erkrankter Patienten
Abb. 1 Leukämie-typische Gingivablutungen bei einem
liegt über dem 60. Lebensjahr. Die Diagnostik der CLL erfolgt
häufi g zufällig bei einer Routine-Blutuntersuchung (OSCIER et al. 2004). Neben den allgemeinen Leukämie-Symptomen fi n-
bei einigen Syndromen mit Chromosomaberration sowie beim
den sich insbesondere Lymphknotenschwellungen sowie Milz-
anderen eineiigen Zwilling, wenn der eine leukämiekrank ist.
und Lebervergrösserungen. Auch hier können verschiedene Formen unterschieden werden. Therapie der Wahl ist eine
Akute lymphatische Leukämie (ALL)
Chemotherapie. Eine vollständige Heilung der CLL wird in
Die ALL ist die häufi gste Leukämie im Kindesalter. Jedoch sind
vielen Fällen nicht erreicht, jedoch eine Verbesserung der Le-
lediglich 20% aller akuten Leukämien ALL. Sie kann nach mor-
bensqualität. Aufgrund der oft hohen Morbidität der vorwie-
phologischen und immunchemischen Kriterien weiter in Unter-
gend älteren Patienten wird auf eine Stammzelltransplantation
gruppen unterteilt werden. Durch Kombination verschiedener
verzichtet. Wird transplantiert, zeigt nur die allogene Transplan-
Zytostatika können beträchtliche therapeutische Erfolge erzielt
tation Aussicht auf mögliche Heilung der CLL (OSCIER et al.
werden; die 5-Jahres-Rezidivfreiheitsrate beträgt bei Kindern
etwa 80%, bei Erwachsenen lediglich 40% (PUI et al. 2004). Die Stammzelltransplantation bringt bei ALL eine deutliche Verbes-
Chronisch myeloische Leukämie (CML)
serung der Prognose, wenn auch nicht bei allen ALL-Unterfor-
Das Häufi gkeitsmaximum der CML liegt im mittleren Lebens-
men (PUI et al. 2004). Der therapeutische Einsatz von Immuno-
alter; 83% erkranken zwischen dem 20. und 60. Lebensjahr.
toxinen ist noch nicht ausreichend dokumentiert.
Durch eine Strahlentherapie (insbesondere der Milz) in Kombi-nation mit Zytostatika wird eine deutliche Senkung der meist
Akute myeloische Leukämie (AML)
hohen Leukozytenzahlen erzielt, häufi g jedoch nur eine geringe
Die AML ist die zweithäufi gste Leukämie im Kindesalter und die
Erhöhung der mittleren Überlebenszeit erreicht. Neuere Präpa-
häufi gste aller akuten Leukämien (80%). Das Risiko, an einer
rate wie Imantinib (HARRIS 2004), aber auch Stammzelltransplan-
Tab. I Aktuelle Klassifi kation vom Leukämien und Lymphomen (mod. nach GOLDMAN & AUSIELLO 2004)
• Chronic myeloid leukemia
Chronic myleogenous leukemia
• Chronic myelocytic leukemia
Chronic leukemias
• Chronic granulocytic leukemia
Hairy cell leukemia
Chronic lymphocytic leukemia
Acute undifferentiated leukemia
Acute myeloid leukemia with minimal differentiation
Acute myeloid leukemia with differentiation
Acute promyelocytic leukemia
Acute myelomonocytic leukemia
Acute leukemias
Acute monocytic leukemia
Acute megakaryosytic leukemia
• Child variant
Acute lymphoid leukemia
• Adult variant
Burkitt-like acute lymphoid leukemia
Hodgkin's disease
• Precursor B-cell lymphoma
• Mature B-cell lymphoma
Non-Hodgkin's lymphomas
• Precursor T-cell lymphoma
T/NK-cell lymphomas
• Mature T/NK-cell lymphoma
tationen werden zur Behandlung der CML eingesetzt wegen
– ähnlich wie bei Bulimie – Erosionen der Zahnhartsubstanzen
ansonsten mässiger Langzeitprognose (CHANG et al. 2004).
verursachen kann.
Heute werden nahezu alle Formen der Leukämie medikamentös
Sekundäre Folgeerscheinungen sind eine sich schnell entwi-
(Chemotherapie) in Kombination mit einer Stammzelltransplan-
ckelnde Karies im Zahnhals- und Wurzelbereich und nicht pri-
tation behandelt.
mär an den Prädilektionsstellen für Karies (Abb. 3–6). Weitere Folgeerscheinung ist ein teilweise erhebliches Schleimhautbren-
Chemotherapie und Stammzelltransplantation
Die Indikationen für eine Stammzelltransplantation sind die meisten malignen hämatologischen und Knochenmark-Erkran-kungen sowie manche benigne hämatologische Erkrankungen mit schlechter Prognose (z. B. Aplastische Anämie) (GRATWOHL2002, KEOHANE 2004, CHAUNCEY 2004, VIOLLIER et al. 2004). Der Allgemeinzustand der Patienten zum Zeitpunkt der Stammzell-transplantation sollte – gemessen an der Grunderkrankung – re-lativ gut sein. Ein Alter des Empfängers von unter 65 Jahren wird favorisiert. Die transplantierten hämatologischen Stammzellen sollen nach Transplantationen in funktionsfähige Knochenmark-zellen differenzieren. Dieser Vorgang dauert bis zu einem Jahr;vor allem während der ersten Monate ist daher das Infektions-risiko deutlich erhöht. Die Patienten sind initial auf einer Isolier-station hospitalisiert und bleiben nach Entlassung unter engma-schiger Kontrolle des Transplantationszentrums.
Der Kern der Leukämiebehandlung besteht in einer antineoplas-
Abb. 2 Deutliche Veränderung der Speichelmenge und
tischen Chemotherapie. Diese zerstört hämatopoietische Zellen,
-viskosität unter antineoplastischer Therapie
die dann durch eigene (autologe) oder fremdgespendete (allo-gene) Stammzellen ersetzt werden. Eine solche Stammzelltrans-plantation ermöglicht eine aggressivere und somit effektivere Chemotherapie. Die hochdosierte Gabe der Zytostatika verur-sacht eine ausgeprägte Immunsuppression, welche die Patienten stark infektionsanfällig macht; Infektionen während dieser Im-munsuppression können für den Patienten lebensbedrohlich sein (OSCIER et al. 2004). Die immunologische Abwehr ist zu diesem Zeitpunkt so stark reduziert, das zunächst eine Abstossungsre-aktion der transplantierten (allogenen) Stammzellen ausbleibt. Die sich in der Zeit nach der Transplantation vermehrenden Stammzellen können jedoch nachfolgend eine akute oder chro-nische Graft-versus-host-Krankheit (GVHD: Graft-versus-host-disease) verursachen. Deren Beschwerden sind meist Haut- und Schleimhautreaktionen sowie hepatologische Probleme. Häufi ge Beschwerden sind Mundschleimhaut- und Augentrockenheit, ähnlich wie beim Sjögren-Syndrom (ROWE et al. 1994).
2002 wurden in Europa 20 207 Stammzelltransplantationen von
Abb. 3 Mundtrockenheit, marginale Plaqueakkumulation
536 Teams in 39 Ländern bei neuen Patienten durchgeführt
und beginnende Gingivitis unter antineoplastischer Thera-
(GRATWOHL 2004): Davon waren 6915 allogene und 13 292 auto-
Intraorale Nebenwirkungen von Chemotherapie und Stammzelltransplantation
Die wichtigste und häufi gste primäre intraorale Nebenwirkung ist die der Zytostatika auf die Speicheldrüsen (MAJORANA et al. 2000). Dies führt bereits während der Chemotherapie zu einer mehr oder weniger deutlichen subjektiven Xerostomie und einer objektiven Hyposalivation (RATEITSCHAK et al. 1988, MAJORANA et al. 2000) mit den entsprechenden Folgen für die Mundhöhle und den Gesamt-organismus (TENOVUO 1998, 2002). Eine Reduktion der Speichel-fl iessrate meist auf unter 0,7 ml pro Minute bis hin zu gar keinemmessbaren Speichelfl uss wird regelmässig beobachtet (Abb. 2). Auch eine Mukositis der Mundschleimhaut ist eine primäre Neben-wirkung der Zytostatika (LITTLE et al. 2002, MAJORANA et al. 2000).
Weitere typische Nebenwirkungen einer Chemotherapie sind
Abb. 4 Generalisierte marginale Plaqueakkumulation, Gin-
Beeinträchtigungen des Geschmacksinns, Nausea und Erbrechen, was
givitis und Mukositis unter antineoplastischer Therapie
Abb. 5 Initiale generalisierte Zahnhalskaries etwa 6 Monate nach antineoplastischer Therapie
Abb. 8 Typische Candidiasis des harten und weichen Gau-mens unter antineoplastischer Therapie
Abb. 6 Fortgeschrittene generalisierte Zahnhalskaries etwa 1 Jahr nach antineoplastischer Therapie
Abb. 9 Ausgeprägte Mukositis und Veränderungen der Wan-genschleimhaut beim GVHD
werden zunehmend Aspergillosen beobachtet (FILIPPI et al. 1997), was auf die Gabe von Fluconazol (z. B. Difl ucan®) als Prophylaxe zurückzuführen ist.
In der Phase der Immunsuppression vor und während der Stammzelltransplantationstherapie werden manche Patienten prophylaktisch antibiotisch behandelt, um lebensbedrohlichen Infektionen vorzubeugen. Diese Antibiotika verschieben das mikrobiologische Gleichgewicht der Mundfl ora und begünstigenzusätzlich eine Candidainfektion.
Ein weiterer prädisponierender Faktor für opportunistische Candidainfektionen sind akute und chronische Veränderungender Mundschleimhaut bei der GVHD (Abb. 9–10). Aus diesem Grund werden den Patienten zusätzlich prophylaktisch Antimy-kotika verabreicht (MAJORANA et al. 2000, HITZ LINDENMÜLLER & FILIPPI 2004). Bevorzugt werden lokal applizierbare Amphoteri-cin-B-Präparate, da Candida crusei, C. glabrata und C. dublinien-
Abb. 7 Atrophische und pseudomembranöse Veränderung
sis oft gegenüber Fluconazol resistent sind. Trotz dieser Prophy-
der Wangenschleimhaut unter antineoplastischer Therapie
laxe sind Candidainfektionen häufi g zu beobachten (LITTLE et al. 2002). Diese verschwinden erst, wenn das immunologische
nen mit atrophischen, hypertrophischen und/oder pseudomem-
System wieder weitgehend regeneriert ist. Zur Therapie zytoto-
branösen Schleimhautveränderungen (Abb. 7), bis vor wenigen
xischer Veränderungen der Mundschleimhaut könnten mögli-
Jahren häufi g assoziiert mit einer Candidainfektion (Abb. 8)
cherweise in Zukunft Fibroblast- (FGF) und Keratinocyte-
(NÄRHI et al. 1999, MAJORANA et al. 2000), wie dies auch von der
Growth-Factor (KGF) zum Einsatz kommen (PETERSON &
Strahlentherapie her bekannt ist (BORNSTEIN et al. 2001a). Heute
CARIELLO 2004).
sen. Bei chronischen Leukämien ist der Behandlungsbeginn in der Regel etwas weniger rasch erforderlich. Dies bedeutet jedochfür den betreuenden Zahnarzt, dass der zeitliche Korridor für die zahnärztliche Diagnostik und ggf. Therapie sehr klein sein kann. Bei akuten Leukämien und optimaler Zusammenarbeit zwischen Hämatologen und Zahnarzt beträgt der vorhandene Zeitraum vor Chemotherapie und Stammzelltransplantation in etwa eine Woche. Dies bedeutet wiederum, dass die zahnärztliche Diag-nostik und Therapie so schnell wie möglich, also in der ersten Behandlungssitzung erfolgen muss. Es ist nachvollziehbar, dass unter solchen Umständen keine umfangreichen zahnärztlichenSanierungen mehr möglich sind.
Daher muss die zahnärztliche Diagnostik und Therapie auf akute oder unmittelbar bedrohliche lokale Infektionen fokussieren (MAJORANA et al. 2000). Das Ziel der zahnärztlichen Bemühungenist somit die Elimination bakterieller Entzündungen (Focussu-che), soweit dies in Abhängigkeit vom Allgemeinzustand des
10 Veränderungen der Zungenschleimhaut beim Patienten und dem zur Verfügung stehenden Zeitraum über-
GVHD mit sekundärer Candidiasis
haupt möglich ist (RATEITSCHAK et al. 1988, LAINE et al. 1992, DGZMK 1999). Diese Elimination betrifft fortgeschrittene Paro-
Typische Folgen einer Chemotherapie sind Gingivitis bzw. Paro-
dontitis marginalis, Parodontitis apicalis, Wurzelreste und teilre-
dontitis marginalis, deren Entstehen durch die Mukositis, die
tinierte Zähne (RATEITSCHAK et al. 1988, LITTLE et al. 2002). Die
Mundtrockenheit und das Schleimhautbrennen begünstigt wird
zahnärztliche Diagnostik muss klinisch und radiologisch erfol-
(MAJORANA et al. 2000), da die Anhaftung von Plaque vereinfacht
gen. Die radiologische Untersuchung erfordert eine Panorama-
und die Mundhygiene erschwert sind. Das marginale Parodont
schichtaufnahme; bei Unsicherheiten oder konkreten Fragestel-
ist eine intraorale Eintrittspforte für Mikroorganismen und somit
lungen können zusätzlich intraorale Einzelzahnfi lme erforderlich
für Infektionen, die während der Immunsuppression unbedingt
werden (DGZMK 1999, MAJORANA et al. 2000). Die klinische Un-
vermieden werden sollten. Dem betreuenden Zahnarzt kommt
tersuchung umfasst die systematische Inspektion der Mund-
hier eine besondere Bedeutung zu.
schleimhaut, der Alveolarfortsätze und der Zähne (RATEITSCHAK
Herpesinfektionen können unter einer Chemotherapie bei betrof-
et al. 1988, MAJORANA et al. 2000). Zusätzlich sind ein Sensibili-
fenen Patienten auffl ammen (MAJORANA et al. 2000, OSCIER et al.
tätstest an sämtlichen Zähnen und die Überprüfung des klini-
2004); in diesen Fällen wird systemisch mit Aziclovir behandelt
schen Lockerungsgrades erforderlich. Im Gegensatz zur Diag-
(MAJORANA et al. 2000). Heute werden bei entsprechenden Risi-
nostik vor Strahlentherapie im Kopf-Hals-Bereich sollte auf eine
kopatienten bereits prophylaktisch Virustatika verabreicht.
Sondierung der Taschentiefen bei sehr kurzem Zeitkorridor aus
Nach einer leukämiebedingten Chemotherapie im Kindesalter
unterschiedlichen Gründen verzichtet werden: Die Konsequen-
wird immer wieder auch über Zahnmissbildungen und über Zahn-
zen für den Patienten sind bei quasi sofortigem Beginn der
durchbruchsstörungen berichtet (FOLWACNY & HICKEL 2001, BOCK et
Chemotherapie irrelevant, eine zusätzliche Bakteriämie sollte in
al. 2002, KRÖMER et al. 2002). Die wichtigsten intraoralen Befunde
dieser Phase unbedingt vermieden werden und fortgeschrittener
und/oder Nebenwirkungen sind in Tabelle II zusammengefasst.
horizontaler oder vertikaler Knochenverlust kann bereits auf derPanoramaschichtaufnahme diagnostiziert werden. Ausserdem
Zahnärztliche Diagnostik und Therapie vor
sind viele dieser Patienten teilweise erheblich erkrankt, kaum belastbar und bereits schon jetzt erhöht infektionsgefährdet
Chemotherapie und Stammzelltransplantation
(Abb. 11). In jedem Fall ist nach erfolgter zahnärztlicher Diag-
Akute Leukämien sind lebensbedrohliche Erkrankungen, die in
nostik eine sofortige Rücksprache mit dem behandelnden Hä-
der Regel nach deren Diagnostik rasch behandelt werden müs-
matologen erforderlich. Dieser entscheidet als behandelnder
Tab. II Relevante intraorale Befunde und/oder Nebenwirkungen vor, während sowie nach Chemotherapie und Stammzell-transplantation (mod. nach MAJORANA et al. 2000)
Chemotherapie und
Chemotherapie und
Chemotherapie und
• Veränderungen der Mundschleimhaut
• Mukositis (abklingend)
(auch durch die Leukämie)
• Gingiva-Blutungen
• Pilz-Infektionen: Candida albicans,
• Gingiva-Blutungen
• Gingivitis, Parodontitis marginalis
Aspergillus spp.
• Pilz-Infektionen: Candida albicans,
• Pulpitis, Parodontitis apicalis
• Bakterielle Infektionen: Gram-negative
Aspergillus spp., Mucor
• Bakterielle Infektionen: Gram-negative
• Virus-Infektionen: Herpes simplex
• Virus-Infektionen: Herpes simplex,
Varizella zoster Virus, Cytomegalieviren• Chronische GVHD
programmierten Veränderungen in der Mundhöhle, vorzubeu-gen (RATEITSCHAK et al. 1988, WIESNER 1995, MAJORANA et al. 2000, LITTLE et al. 2002). Erhaltungswürdige Zähne mit Pulpanekrose und/oder Parodontitis apicalis sollten nach Trepanation und vollständiger (!) Aufbereitung des Wurzelkanals mit Kalziumhy-droxid bis zum Apex gefüllt werden. Ein bakteriendichter koro-naler Verschluss ist selbstverständlich.
Grundsätzlich sind immer eine Mundhygieneinstruktion und eine Motivation des Patienten erforderlich (MAJORANA et al. 2000), der mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung meist sehr kurzfristig konfrontiert worden ist und für den seine Zähnemomentan eher Nebensache sind. Es ist Aufgabe des betreuen-den Zahnarztes, auf die durch die Chemotherapie veränderteSituation in der Mundhöhle und die erforderliche intensivere Mundhygiene hinzuweisen. In jedem Fall sollten Fluoridierun-gen aller erhaltungswürdigen Zähne (RATEITSCHAK et al. 1988, WIESNER 1995) und chlorhexidinhaltige Mundspüllösungen im
Abb. 11 An Leukämie erkrankter Patient bei der zahnärzt-
gesamten onkologischen Behandlungszeitraum durchgeführt
lichen Focussuche: Schutz vor Infektionen beim Transport
werden (LITTLE et al. 2002). An der Universität Basel haben sich
durch Mundschutz
Emofl uor®-Spray und Dentohexin® bzw. Meridol® bewährt; eine Fluorid-Applikation durch den Zahnarzt in Form von Fluor-
Arzt und Koordinator der lebensbedrohlichen Erkrankung da-
protector®-Lack wird nur bei empfi ndlichen Zahnhälsen oder
rüber, ob, wann und welche zahnärztliche Intervention überhaupt
bei hoher Kariesaktivität durchgeführt. Insuffi ziente Zahnpro-
noch durchgeführt werden kann. Bei diagnostiziertem intraora-
thesen sollten nur zum Essen getragen werden und ansonsten
lem Bakterienherd müssen sehr sorgfältig die Vor- und Nachteile
in Chlorhexidinlösung gelagert werden (LITTLE et al. 2002):
einer sofortigen oralchirurgischen, parodontologischen oder
Chlorhexidin bindet sich an den Prothesenkunststoff und hemmt
endodontischen Intervention abgewogen werden (MAJORANA et
dort die mikrobiologische Kolonisation auf der Oberfläche
al. 2000). Zahnärztliche Infektionselimination geht häufi g mit
(SAMARANAYAKE et al. 1980, WALTIMO et al. 2004).
invasiver Therapie einher; der Zeitraum für eine intraorale Wund-heilung von mindestens einer Woche steht jedoch nur in seltenen
Zahnärztliche Diagnostik und Therapie während
Fällen zur Verfügung. Ein weiterer wichtiger Einfl ussfaktor auf
Chemotherapie und Stammzelltransplantation
eine mögliche invasive zahnärztliche Therapie sind die aktuellen Blutwerte des Patienten (MAJORANA et al. 2000): von invasiven
Während der Leukämieintensivtherapie und Stammzelltrans-
Therapien ist bei bestehender Neutropenie (Neutrophile Granu-
plantation, die in der Regel in einer Isolierstation maximal zwei
lozyten < 1⫻109/l) abzuraten; Ausnahmen sind akute Entzün-
Monate dauert, ist die peritransplantäre Mortalität hoch. Die
dungen, die in jedem Fall zahnärztlich behandelt werden müssen.
Isolation soll das Infektionsrisiko während der Immunsuppres-
Ebenfalls sollte der Hämoglobinwert > 80 g/l und die Thrombo-
sion weitestmöglich reduzieren. Unbehandelte orale Entzündun-
zytenzahl > 50–100⫻109/l sein. Werden chronische intraorale
gen können in dieser Phase potenzielle Quellen für lokale und
Infektionen diagnostiziert und lässt ein enger zeitlicher Korridor
systemische Infektionen sein (LAINE et al. 1992, FILIPPI et al 1997,
keinen Platz für eine zahnärztlich-invasive Therapie mit entspre-
MAJORANA et al. 2000). Auch opportunistische pathogene Keime
chender Zeit für die Wundheilung, sollte nach Absprache mit
in einer suffi zient versorgten Mundhöhle können allgemeinme-
dem Hämatologen ein Antibiotikum während der gesamten
dizinische Probleme während der Immunsuppression verursa-
Phase der Chemotherapie verabreicht werden. Aufgrund des
chen. Daher ist eine effi ziente Mundhygiene während der Im-
zeitlichen Drucks kann dies jedoch immer nur ein Kompromiss
munsuppression unbedingt erforderlich (MAJORANA et al. 2000).
sein und niemals ein Äquivalent zur Elimination der bakteriellen
Während der Isolation haben sich als antibakterielle Mundspül-
Ursache. Hier müssen in den Phasen der Remission die bakte-
lösungen Aminfl uorid-Lösungen (Meridol®) und Chlorhexidin-
riellen Erkrankungen behandelt werden, soweit der Allgemein-
Lösungen (Corsodyl®) bewährt (LAINE et al. 1992, MEURMAN et
zustand des Patienten das zulässt. Bleibt genügend Zeit für eine
al. 1997): Fieberschübe wurden deutlich seltener beobachtet.
invasive zahnärztliche Therapie, muss nach allen Zahnentfer-
Dies zeigt auch die hohe Bedeutung der oralen Mundfl ora für
nungen grundsätzlich antibiotisch behandelt werden, um Wund-
den Gesamtorganismus während einer Immunsuppression. Für
heilungsstörungen und somit -verzögerungen vorzubeugen
den Patienten belastend sind die intraorale Mukositis und ggf.
(RATEITSCHAK et al. 1988, MAJORANA et al. 2000). Empfohlen wird
eine akute orale GVHD (MAJORANA et al. 2000). Die Beschwerden
Amoxicillin mit Clavulansäure (Augmentin® oder ein Generi-
der Mukositis können vor allem durch milde entzündungshem-
kum) in einer Dosierung bei Erwachsenen von 2⫻1g/Tag bzw.
mende Mundspüllösungen reduziert werden (beispielsweise
bei Kindern in Abhängigkeit vom Körpergewicht (LAMBRECHT
Tebodont® oder Kamillosan®); Versuche, den toxischen Einfl uss
2004). Grundsätzlich muss jede zahnärztliche antibiotische Pro-
der Zytostatika durch Zytokine oder Wachstumsfaktoren zu re-
phylaxe oder Therapie bei Patienten vor Chemotherapie mit dem
duzieren, sind viel versprechend (MAJORANA et al. 2000, PETERSON
behandelnden Arzt abgesprochen werden. Wie vor Strahlenthe-
& CARIELLO 2004). Die Symptome der GVHD können mit topi-
rapie auch sollte eine professionelle Zahnreinigung am ersten
schen oralen Steroiden verbessert werden (MAJORANA et al.
Behandlungstag – falls erforderlich – erfolgen (MAJORANA et al.
2000). Karies sollte exkaviert und mindestens temporär ver-
In aller Regel darf der Patient während der Akuttherapie die
schlossen werden, um einer rasch fortschreitenden Karies bzw.
Isolierstation nicht verlassen. Bei zahnärztlichen Problemen ist
Schmerzen und/oder endodontischen Komplikationen bei den
daher immer ein zahnärztliches Konsilium auf dieser Station
erforderlich. Akute orale infektiöse Erkrankungen werden in
Jahren noch nicht normalisiert hat (RATEITSCHAK et al. 1988). Die
dieser immunologischen Extremsituation primär antibiotisch
Schwerpunkte der zahnärztlichen Behandlung stammzelltrans-
behandelt (LITTLE et al. 2002), möglichst nach Anfertigung eines
plantierter Patienten in Basel liegen in der Behandlung von
Antibiogramms. Darüber hinausgehende Behandlungen müssen
Patienten mit Hyposalivation, GVHD und rezidivierenden Infek-
mit den behandelnden Hämatologen abgesprochen werden.
tionen der Mundschleimhaut.
Solche Therapien erfordern eine parenterale Antibiotikagabe undsollten ausschliesslich unter intensiver Zusammenarbeit von Hämatologen und oral- bzw. kieferchirurgischen Fachabteilun-
gen erfolgen (DGZMK 1999). Während der Isolationsphase
Nach der Diagnose «Leukämie» wird der Stellenwert einer in-
müssen Zahnseide, Zahnhölzer und/oder Interdentalbürsten
tensiven zahnärztlichen Diagnostik, ggf. Therapie und Betreuung
vermieden werden, um keine Bakteriämie zu provozieren oft weder von den behandelnden Allgemeinmedizinern noch (RATEITSCHAK et al. 1988, LITTLE et al. 2002). Als Ersatz wird zwei-
von den betroffenen Patienten gesehen und entsprechend der
mal täglich eine Chlorhexidin-Mundspüllösung empfohlen. Zu-
Priorität eingeordnet. Unbehandelte intraorale Infektionen sind
sätzlich sollten fl uoridierte Mundspülungen eingesetzt werden,
jedoch ein nicht zu unterschätzender Risikofaktor während der
um das Kariesrisiko zu minimieren (RATEITSCHAK et al. 1988,
Immunsuppression und Stammzelltransplantation. Antibiotika-
LITTLE et al. 2002). In diesem Zusammenhang wird auch auf eine
Prophylaxe kann einer durch orale Infektionen induzierten
kariesprotektive, nicht kohlenhydratreiche und nicht klebrige,
Sepsis während der Phase der Immunsuppression vorbeugen;
pH-neutrale Ernährung hingewiesen (RATEITSCHAK et al. 1988).
trotzdem treten infektionsbedingte Komplikationen nicht selten
Diese Überlegungen sind jedoch nach Ansicht der Autoren in
auf. Die Gründe sind unter anderem in antibiotikaresistenten
einer extremen Ernährungssituation (ständige Übelkeit, Erbre-
Bakterien zu suchen. Können intraorale Infektionen noch vor
chen, Schmerzen beim Kauen, keinen Appetit) mit der Gefahr
Beginn der Immunsuppression eliminiert werden, erleichtert dies
einer möglichen Malnutrition irrelevant. In Bezug auf die Oligo-
die intra- und postimmunsuppressive Zeit ganz erheblich. Daher
sialie haben sich pH-neutrale Speichelersatzstoffe bewährt (bei-
ist die zahnmedizinische Elimination bakterieller Entzündungen
spielsweise Emofl uor®-Spray) (BORNSTEIN et al. 2001b).
sowie die prä- und postoperative Betreuung ein wichtiger Be-standteil der Behandlung von Leukämiepatienten.
Zahnärztliche Diagnostik und Therapie nachChemotherapie und Stammzelltransplantation
Nach Verlassen der Isolierstation – etwa zwei Monate nach der
WALTIMO T, CHRISTEN S, MEURMAN J H, FILIPPI A: Dental care of
Stammzelltransplantation – kann der Patient grundsätzlich wie-
patients with leukemia (in German). Schweiz Monatsschr
der einen Zahnarzt aufsuchen. Am Universitätsspital Basel, an
Zahnmed 115: 308–315 (2005)
dem Stammzelltransplantationen durchgeführt werden, ist an
Leukemias include a variety of acute and chronic malignant
den Universitätskliniken für Zahnmedizin ein zahnärztliches
hematological diseases that require antineoplastic chemotherapy.
Recallsystem installiert, welches alle transplantierten Patienten
Hematological stem cell transplantation allows an aggressive
spätestens 6 Monate nach der Behandlung aufbietet oder bei
chemotherapy during which patients suffer from severe immu-
eventuell akut auftretenden Beschwerden sofort anschaut. Vielen
nosuppression. Oral infections may cause serious complications
dieser Patienten fehlt in den ersten Monaten nach der Behand-
during this immunosuppression. Therefore, professional diagno-
lung die Kraft und Energie, eine Zahnarztpraxis aufsuchen zu
sis and elimination of oral infection foci must be carried out as
können. Daher sollte die postoperative Betreuung zunächst den
early as possible before such treatment. Aggressive chemother-
Spezialisten der Zahnmedizinischen Zentren vorbehalten blei-
apy causes hyposalivation and as a consequence an increased
ben. Es dauert etwa ein Jahr, bis die transplantierten Stammzel-
risk for oral hard and soft tissue diseases. Adequate oral care
len ihre volle Funktion übernommen haben und bis auch die
before, during and after chemotherapy combined with a stem
oralen Nebenwirkungen der Zytostatika vollständig abgeklun-
cell transplantation is necessary to prevent oral diseases and
gen sind. Bevor invasive zahnärztliche Behandlungen begonnen
systemic complications of oral origin.
werden, muss Rücksprache mit den behandelnden Hämatologengenommen werden, um Infektionsgefahr und Blutungsrisiko abschätzen zu können (L
ITTLE et al. 2002, DGZMK 1999). Ein
Grossteil der Patienten erhält über den stationären Aufenthalt
Le diagnostic de leucémie impose une prise en charge rapide,
hinaus Immunsuppressiva (z. B. Sandimmun®) und/oder Korti-
tant sur le plan général que sur celui des défenses immunitaires,
kosteroide, um einer chronischen GVHD vorzubeugen, bzw. um
afi n d'obtenir la guérison du patient. La transplantation de cel-
diese zu behandeln. Diese Präparate haben, wie bei organtrans-
lules souches représente une thérapie antinéoplasique effi cace,
plantierten Patienten auch, ganz wesentlich Einfl uss auf zahn-
mais aussi agressive pour un patient déjà amoindri. L'immuno-
ärztliche Behandlungen. Viele der Patienten erhalten von den
suppression recherchés dans une telle thérapie implique le risque
behandelnden Ärzten zusätzlich Anxiolytika (z. B. Diazepam,
que des infections orales courantes soient à la base de compli-
Oxazepam), was negativen Einfl uss auf die Speichelfl iessrate hat.
cations systémiques sévères. Pour cette raison, une recherche
Dies kann mit pH-neutralen Speichelersatzstoffen teilweise
minutieuse de foyers infectieux bucco-dentaires est indispensable
kompensiert werden. Wenn sich die Speichelfl iessrate und die
avant toute chimiothérapie suivie d'une transplantation de cel-
Blutwerte nach vielen Monaten wieder normalisiert haben, kön-
lules souches. Les patients confrontés à cette maladie mettant
nen die Patienten privatzahnärztlich weiterbetreut werden. An
leur vie en danger à court terme, ont la tendance compréhensible
den Universitätskliniken für Zahnmedizin der Universität Basel
de n'attribuer à leurs dents qu'une importance secondaire. Ce-
werden alle Patienten nach Chemotherapie und Stammzelltrans-
pendant, la prise en charge médico-dentaire effi cace avant,
plantation zusätzlich über mindestens drei Jahre kontrolliert, da
pendant et surtout après un tel traitement joue un rôle capital
sich die intraorale Situation bei einigen Patienten auch nach
dans la prévention des complications infectieuses.
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